Was hinter dieser, auf unserer Hirntätigkeit basierenden Kompetenz steckt, ist noch nicht komplett erforscht.
Dass beim Denken im Rahmen des Treffens von Entscheidungen Einiges schief gehen kann, zeigt sich insbesondere beim Verhalten von Anlegern an der Börse.
Als Ende der 90er Jahre das Thema Aktie in Deutschland populär wurde – Manfred Krug machte Werbung für die Telekom-Aktie – wurde auch das Thema Denken intensiv diskutiert. Damals ging es darum, wie Aktienanleger denken und warum sie Aktien kaufen, verkaufen und warum sie sich in Situationen zu spät von Aktien wieder trennen.
Wer es genau wissen wollte, griff schon damals auf Bücher zurück, die von dem Kognitions-Psychologen Daniel Kahneman geschrieben wurden – zum Beispiel das von ihm gemeinsam mit Amos Tversky und Paul Slovic veröffentlichte Werk Judgement under Uncertainty: Heuristics and Biases. Dabei handelte es sich um ein ausgesprochenes Fachbuch, das bei Laien wenig bekannt sein dürfte.
Die Telekom-Aktie hat sich als Flop erwiesen und bei vielen Investoren erhebliche Verluste verursacht. Wer damals bei Kahneman nachgelesen hätte, wäre durch besseres Denken wahrscheinlich von Schaden frei geblieben.
Klimawandel erfordert gut überlegte Entscheidungen.
Im Augenblick steht zwar kein weiterer Börsenboom an. Aber dennoch befinden wir uns in einer Situation, in der Denkkompetenz im Zusammenhang von Entscheidungen wichtig ist. Es geht um die Umwelt und um das richtige Handeln zur Verhinderung von Katastrophen durch den drohenden Klima-Wandel.
Passend, dass Daniel Kahneman ein gut verständliches Buch mit langjähriger Verkaufswirkung geschrieben hat: Schnelles Denken – langsames Denken (englisch: Thinking, Fast and Slow) – auf das wir in unserer prekären Situation zurückgreifen können. Einen Beitrag dazu habe ich hier bereits veröffentlicht.
Und: Es gibt noch mehr Denkunterstützung. Es treten deutsche Intellektuelle auf, die sich publikumsträchtig mit dem Thema Denkkompetenz beschäftigen: Ein Bekannter aus der Öko-Szene empfahl mir das Buch „Selbst Denken“ von Harald Welzers, ein Buchautor, der sich als Soziologe und Sozialpsychologe positioniert.
Durch meine aktuelle Lektüre von Kahnemans Bestseller angeregt, entschied ich mich, der Empfehlung zu folgen, kaufte das Buch und begann in der Hoffnung zu lesen, etwas über richtiges Denken zur Verhinderung von Umweltkatastrophen zu lernen.
Das „Welzer’sche Doofen-Theorem“
Allerdings: Ernsthafte Zweifel an der Begründetheit dieser Hoffnung kamen mir bei der Lektüre des Hardcovers spätestens auf Seite 223, wo Autor Harald Welzer zum ersten und einzigen Mal in seinem Werk so etwas wie eine formal strukturierte Theorie formuliert – das „Welzer’sche Doofen-Theorem“. Das geht ungefähr so:
Jede gesellschaftliche Untergruppe ist, was die Denk-Möglichkeiten ihrer Mitglieder angeht, folgendermaßen strukturiert:
20 % sind nicht-doof („intelligent“)
40 % sind halb-doof („durchschnittlich“)
40 % sind ganz-doof
Welzer: „Unter Professoren gibt es genauso viele dumme Menschen wie unter Polizisten, Putzfrauen oder Polsterern, und umgekehrt.“ – Neckisch diese Alliteration auf „P“ – da weiß jeder sofort, dass Welzer diese Textpassage effektvoll bei öffentlichen Lesungen einzusetzen plant.
Lacher sind hier vorprogrammiert.
Mir ist allerdings das Grinsen gefroren, als ich mich fragte:
„Zu welcher dieser Gruppen gehöre ich, wenn ich dieses Buch hier bis zur letzten Seite lese?“ – Am Ende dieses Beitrags werde ich dringend eine Antwort hierauf geben.
Welzers Hirn leidet an Verschleiß.
Vorher muss ich genauer unter die Lupe nehmen, was Welzer im Weiteren über das Denken und seine Möglichkeiten schreibt.
Doch bevor jemand in diesem Zusammenhang auf falsche Gedanken kommt:
Welzers Ansatz hat mit empirisch-wissenschaftlicher Diskussion nichts gemein. Es geht ihm nicht darum – wie dies etwa bei Kahneman der Fall ist – experimentell belegte Hypothesen über das Denken zu diskutieren und daraus nützliche Denktechniken zu entwickeln. Stattdessen konfrontiert der Autor von „Selbst Denken“ seine Leser mit persönlich gefärbten Vorstellungen zu den Denk-Kompetenzen menschlicher Wesen.
Dazu ein weiterer O-Ton – diesmal von Seite 248, wo Welzer darüber grübelt, warum er sich selbst im Alter von 15 ernster genommen hat als beispielsweise im Alter von 55 – also 40 Jahre später:
„Das hat unter anderem damit zu tun, dass die Pubertät auf der Ebene der Gehirnentwicklung eine der vitalsten und reichsten Phasen darstellt: Niemals vorher und hinterher hat man ein schärferes Sensorium für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, für Wahrhaftigkeit und Lüge, für Klugheit und Dummheit. Dieses scharfe Unterscheidungsvermögen schleift sich ab, je mehr man zu wissen und zu verstehen glaubt, und im Ergebnis fühlt man sich plötzlich mit exakt dem einverstanden, was man damals richtigerweise für falsch hielt und gegen das man anzugehen bereit war.“
Man, man, man und nochmals man – dass Welzer sich angesichts einer seit Jahrzehnten äußerst befundreichen neurowissenschaftlichen Forschung traut, solche eigentümlichen Vorstellungen als ausgemachte Erkenntnisse darzustellen!
Demgegenüber können wir als wissenschaftlich belegte Tatsachen annehmen, dass sich unsere Hirne dadurch auszeichnen, dass sie „plastische“ neuronale Systeme sind – Verbindungen darin sind grundlegend flexibel und zwar lebenslang.
Anders als von Welzer behauptet, setzt das Erkennen und Beurteilen von faktischen und moralischen Tatbeständen ständiges Lernen – ständiges Neuverknüpfen von neuronalen Verbindungen im Hirn – voraus. Es ist also absurd, anzunehmen, dass Personen als Pubertierende treffend urteilen könnten und diese Kompetenz mit zunehmendem Alter durch eine Art „Hirnverschleiß“ verlören.
Welzer denkt auf höheren Ebenen.
Lohnt sich nach dieser Einsicht, noch weiter in das vorliegende Buch einzusteigen?
Machen wir einfach weiter: Jedem Denk- und Bewusstseinsprozess liegt ein paralleler Prozess im neuronalen System des menschlichen Hirns zugrunde – die Basis vom „Selbst Denken“ sind also Hirnprozesse. Mit Blick auf das vorliegende Buch muss ich feststellen, dass diese materiellen Grundlagen unseres Denkens den Autoren Harald Welzer nicht interessieren.
Dennoch – vielleicht ist an seinen Überlegungen etwas dran – möglicherweise etwas Höheres, Bedeutenderes als neurophysiologische Mechanismen, das den Leser interessieren könnte.
Gehen wir mit der Lektüre systematisch weiter:
Was ist überhaupt der Plot in Welzers Buch?
Der ist schnell umrissen:
Sein „Selbst Denken“ gliedert sich in zwei Hauptteile – Teil 1 geht von Seite 1 bis Seite 133, Teil 2 von Seite 133 bis Seite 293.
Teil 1 widmet sich der „Beschimpfung“ der Leser, Teil 2 wird deshalb eingeleitet mit den Worten „Das ist der Augenblick, an dem ich aufhören muss, Sie zu beschimpfen.“ – es beginnt die Phase der „moralischen Unterweisung“.
Worauf zielt der Autor ab?
Welzer setzt bei seiner Beschimpfungs- und Moral-Mission bei dem Faktum an, dass unsere Welt keine weiteren CO2-Emissionen mehr absorbieren kann und dass deshalb die Menschheit dringend auf weiteres expansives Wirtschaftswachstum verzichten muss. Wie Welzer es ausdrückt, es ist dringend von einer expansiven auf eine reduktive Kultur umzustellen, „vom Wachstum zur Kultivierung, vom Aufbau zum Ausbau“.
Teil 1 dient Welzer dazu, den Lesern im Detail ihre Verantwortung für die Schädigung der Umwelt sowie ihre Rolle für die möglichst effektive zukünftige Reduktion der Treibhausgasemission vor Augen zu führen.
Teil 2 dient dem Autoren dazu zu zeigen, wie die Leser durch die Schaffung eines moralischen Bewusstseins, durch „moralische Phantasie“ und durch das Nutzen von „moralischen Streckübungen“ dahin zu kommen, Wege zur CO2-Reduktion individuell zu ermitteln und zu beschreiten. Welzer möchte uns Leser ethisch verpflichten, uns ständig Gedanken darüber zu machen, ob wir nicht gerade wieder direkt oder indirekt die Luft „versauen“. Wir sollen uns in unserem Denken die Kultur der Umweltschonung als laufende Verpflichtung auferlegen und uns grundlegend emissionsverhindernd verhalten.
Welzer trinkt nicht gerne „Kraneberger“.
Das hört sich recht ehrenwert und vernünftig an. – Doch funktioniert diese Pflicht-Ethik?
Wir brauchen Welzer lediglich anhand eines seiner eigenen Beispiele „beim Wort zu nehmen“, um diese Frage zu beantworten:
Einer seiner Umwelt-Pflicht-Vordenker ist der Unternehmer Peter Kowalsky, der eine besondere Limonade, die „Bionade“ auf den Markt gebracht hatte:
„Peter Kowalsky begann, Nachhaltigkeit offensiv zu thematisieren, und es gibt kaum einen Preis mit »öko« oder »bio« im Namen, der ihm im Laufe der vergangenen Jahre nicht verliehen wurde.“ (S. 266)
Für Welzer ist das Beispiel einer Limonade also ein wichtiges Lehrstück für seine pflicht-ethische Diskussion. Dass der Autor sein eigenes Pflicht-Ethik-Konzept damit ad absurdum führt, ist offensichtlich. – Oder?
Falls doch nicht und damit ich jetzt endlich selbst denke, liste ich auf, warum das so ist:
Wenn es zukünftig darum geht, konsequent auf unnötige CO2-Emissionen zu verzichten, haben wir unser bisheriges Konsumverhalten radikal zu verändern. Statt mit dem Auto zum Supermarkt zu fahren, um kistenweise in Flaschen gezogenes Getränk zu kaufen, bleiben wir zu Hause und bedienen uns aus dem Wasserkran.
Was da heraus kommt, hat manches Mal eine höhere Qualität, als das, was in Super- und Getränkemärkten an industriell aufbereitetem H2O angeboten wird. Wenn wir dieses Industrie-H2O nicht kaufen, industriell gefertigte Erfrischungsgetränke immer weniger nachgefragt und produziert werden, entfallen CO2-Emissionen im Rahmen von Logistik, Verpackungsherstellung, Lagerung, Betreibung eines Pfand-Glasflaschen-Systems, Produktion und Recycling von Pfand-Kunststoffflaschen sowie von Kunststoff-Einwegflaschen usw. Natürlich werden dadurch noch viele weitere Ressourcen eingespart – tausende Liter von Wasser. Darüber hinaus müssen keine Reinigungs-Chemikalien verwendet werden, welche die Natur obendrein belasten.
Jemand, der eine „Bio-Limonade“ auf den Markt bringt, setzt den falschen Impuls. Denn er bringt insbesondere Konsumenten, die an biologisch-sensibler Produktion von Nahrungsmitteln und an ökologischer Nachhaltigkeit interessiert sind, dazu, etwas zu konsumieren, das ihrem eigentlichen Interesse an der Schonung der Umwelt widerspricht – sie trinken H2O mit Geschmack und Zucker, das im Vergleich zu Kranwasser über eine erbärmliche Ökobilanz verfügt.
Pflichtethiken taugen nicht zur Gestaltung einer besseren Zukunft.
Was folgt aus diesem Beispiel: Pflichtethiken wie die von Harald Welzer haben grundlegende Schwächen.
Eine davon haben wir uns gerade angesehen: Sie klären nicht deutlich genug, was richtig ist und wie wir uns in konkreten Situationen korrekt zu verhalten haben.
Diese Ethiken bewerten vor allem die Gesinnung von Menschen – loben wie gesehen gedankenlos umweltbelastende Konsumprodukt-Ideen -, bewerten deren Ethos nicht danach, welche Konsequenzen ihr Handeln hat.
Welzer scheut sich nicht, sein Ignorieren von Handlungskonsequenzen deutlich einzugestehen. Entsprechend formuliert er die Regel 10 auf der letzten Seite seines Buches (S. 293) zur Gewissenentlastung der Leser: „Sie haben keine Verantwortung für die Welt.“
Denn das Einüben der richtigen Gesinnung, die moralische „Streckung“, das ist es, worum es in „Selbst denken“ geht – nicht darum, systematisch darüber zu reflektieren, wie es uns gelingen kann, konkret an der „Formel“ für Klimagas (CO2 = P x GDP x gini x (1 – ς) x TMR) – per Klick zur Erläuterung – zu arbeiten, um CO2-Emissionen tatsächlich einzuschränken.
Fazit: Die moralische Mission des Buchs ist gescheitert.
Welzers Leser sind „viertel-doof“.
Nun komme ich noch einmal zurück auf die Frage, die ich zu Beginn gestellt habe, und damit auf Welzers „Doofen-Theorem“.
Nachdem ich Harald Welzers Buch von vorne bis hinten gelesen habe – für wen muss ich mich jetzt eigentlich halten?
Für einen der 20% Nicht-Doofen, einen der 40% Halb-Doofen oder einen 40% Ganz-Doofen?
Nach kurzer Überlegung habe ich folgende Antwort:
Gehörte ich zu den Ganz-Doofen, würde ein Titel wie „Selbst-Denken“ mich wahrscheinlich weder begeistern oder zum Lesen motivieren. Ich hätte es einfach übersehen. Hörte sich zu sehr nach Anstrengung und angesichts beschränkter Kompetenz nach höchst ungewissem Erfolg an.
Gehörte ich zu den 20 % Nicht-Doofen, hätte ich vor der Lektüre geblättert, hätte die letzte Seite gelesen und wäre auf die Regel 10 gestoßen (Sie haben keine Verantwortung für die Welt.). Ich hätte gedacht, wenn nach 293 Seiten egal ist, was ich tue, und ich keine Verantwortung übernehmen brauche, ist mir auch das Buch egal.Ich hätte es zur Seite gelegt und nicht weiter beachtet.
Ich gehöre also am ehesten zu der Restgruppe, zur Gruppe der 40 % Halb-Doofen. Das versetzt meinem Selbstwertgefühl einen gewissen Stich. Lieber hätte ich zu den oberen 20 % gehört. Mist!
Doch zwei Dinge trösten mich:
1. Meine Halb-Doofen-Gruppe ist groß. Geteilte Doofheit ist vielleicht halbe Doofheit. Da wir von Anfang an ja nur halb-doof sind, können wir uns gemeinsam zur Viertel-Doofheit aufschwingen.
2. Und wenn ich alt bin und meine Geistesstärke noch weiter abnimmt, falle ich nicht direkt aus dem System. Ich kann in die untere Liga absteigen und da einen glücklichen, unbedarften Lebensabend zusammen mit vielen anderen Doofen verbringen.
Fazit: Geisteswissenschaften ringen um ihre Vorherrschaft.
Um ein kurzes Fazit zu ziehen: Unser Ausgangspunkt war das Thema „Denken in wichtigen Entscheidungssituationen“ und die empirischen Forschungsergebnisse, die beispielsweise von Daniel Kahneman veröffentlich wurden.
Beim Lesen des Welzerschen Wälzers fiel uns auf, dass der Autor – wie er selbst sagt – zunächst den Leser von moralisch höherer Ebene aus maßregelt. Als nächstes konfrontiert er uns mit einer Umwelt-Gesinnungs-Ethik. An verschiedenen Details wurde deutlich, dass sich Welzer um empirisch-wissenschaftliche Einlösbarkeit seiner Ideen nicht schert.
Leser werden nun denken: Wie kommt so etwas zustande? Ist so ein Stück „Literatur“ nicht gänzlich „aus der Art“ geschlagen?
Die Antwort ist: Nein – die Art der Argumentation steht fest verankert im Rahmen der Autoren-Kunst im Rahmen deutschen Geisteslebens.
Was Welzer hier zelebriert, ist offenbar eine Imitation der typischen „professoralen Rede“ (1). Der deutsche Professor ist ein erster Repräsentant des deutschen Idealismus und er spricht von einer erhöhten intellektuell-moralischen Sphäre aus zu uns. Das Kriterium, das er an seine Argumentation anlegt, ist keineswegs die Relevanz für die Lösung praktischer Probleme. Es ist stattdessen die Erbauung und die moralische Unterweisung, der die Rede vorderweg zu dienen hat. Der professorale Text ist eine literarische Weihestunde, in der das Bildungs-interessierte Lesepublikum Kultur zelebriert bekommt. – Welzer durchzieht seinen Text übrigens mit Bezügen etwa auf diverse deutsche Philosophien.
Auch dass empirisch-wissenschaftliche Kriterien an Welzers Denkkonzept nicht anlegbar sind ist typisch:
Kaum in einem weiteren Kulturkreis wie dem unsrigen ist die Integration der Methoden der Naturwissenschaften auf Geisteswissenschaften so zäh bekämpft worden.
Sehr intensiv wurde der Kampf zwischen Geist und Materie insbesondere in der deutschen Soziologie austragen. Die Tatsache, dass die Soziologie und andere Sozialwissenschaften wie beispielsweise die Psychologie (tatsächlich – dies ist eine Sozialwissenschaft) empirische Wissenschaften sind, hat sich in unserem Kulturkreis noch nicht vollständig durchgesetzt (2). Die maßgebliche sozialwissenschaftliche Forschung findet vor diesem Hintergrund statt bei uns eher in angloamerikanischen Ländern statt.
Details zum Buch
Harald Welzer; Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand; März 2013; 336 Seiten, ISBN-13: 978-3100894359
Selbst Denken mit der Klima-Formel
Diese provisorische Formel für das Volumen der weltweit auftretenden CO2-Emissionen nach Bunge/Wilkinson (3) bietet eine grobe Übersicht über die Problemlage. Sie zeigt aber schon recht deutlich, welche schmerzhaften Einschnitte wir hinnehmen müssen, um das Klimagas schnellmöglich in den Griff zu bekommen:
CO2 = P x GDP x gini x (1 – ς) x TMR
Folgende Faktoren bestimmen demnach den Ausstoß von Klimagas:
P = Population – Größe der Bevölkerung
GDP = Gross domestic product – Produkte und Dienstleistungen, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums hergestellt werden – Indikator des Lebensstandards einer Bevölkerung
gini = Der Gini-Koeffizient – statistisches Maß für die Einkommens-Ungleichverteilung in einer Bevölkerung
ς = Spar-Rate s (savings rate) – Indikator für die Verbrauchs-Gewohnheiten einer Bevölkerung, insbesondere deren Tendenz durch sorgsamen Umgang mit Energie, dem Meiden des Einkaufs von Wegwerfartikeln, dem Meiden des Betriebs ressourcenverschwendender Vehikel (z.B. von SUVs) usw. zu sparen
TMR = Technologische Ineffizienz-Rate (total material requirement) – ein Indikator dafür wieweit beispielsweise erneuerbare Energien eingesetzt werden, um den Verbrauch fossiler Energien zu drosseln
Starten wir unser Selberdenken, indem wir folgende Fragen beantworten:
Wie erreichen wir schnellstmöglich
eine Drosselung des Wachstums unserer Bevölkerung?
parallel eine Drosselung des Konsums und einen Verzicht auf für das Überleben nicht notwendiger Lebensstandards?
die Behebung der ökonomischen Ungleichheit in unseren Bevölkerungen, die mit enormen Kosten verbunden ist (Verbindung CO2-Ausstoß und Ungleichheit siehe Wilkinson 2009)?
die Erhöhung der laufenden Einsparung von Energie und Ressourcen?
und die Verringerung der technologischen Ineffizienz?
Anmerkungen
(1)
Eine detaillierte Analyse der Hintergründe findet sich beim Soziologen Richard Münch:
Richard Münch, Die Kultur der Moderne, Band 2 – Ihre Entwicklung in Frankreich und Deutschland, Frankfurt am Main 1986; S. 683-846
(2)
Zum Konzept der Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft und zur Einordnung der durch den Idealismus geprägten deutschen Theoretiker findet sich eine detaillierte Analyse beim österreichischen Soziologen Max Haller:
Max Haller, Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich; Wiesbaden 2003 (Auflage 2).
(3)
Siehe:
Bunge, Mario; „Climate and Logic“, in: Mario Bunge, Evaluating Philosophies; Dortrecht, Heidelberg, New York, London; 2012 (S. 57 – 59)
Wilkinson, Richard; Kate Pickett, The Spirit Level. Why More Equal Societies Almost Do Better; London 2009
Vielen Dank für die Fotos der Fotografen und Agenturenauf Unsplash:
Fakten zum Klimaschutz-Skeptizismus in Deutschland
Klimaschützer, die sich für aktuelle Forschungsergebnisse interessieren, können seit Jahren auf reichlich Lesestoff zurückgreifen. Es erschienen zahlreiche Studien, die den Rückgang des öffentlichen Interesses an Klimaschutz-Fragen und den parallelen Anstieg des sogenannten „Klimaschutz-Skeptizismus“ analysieren. Viele Beobachter halten die hiermit angesprochene, von dem amerikanischen Soziologen Riley E. Dunlapbeschriebene „Produktion von Zweifel“ für ein typisch US-amerikanisches oder angelsächsisches Phänomen.
Mit der Veröffentlichung des sogenannten „Hockeyschläger-Verlauf“ der Klimageschichte begannen im Jahr 1999 die Kampagnen von Klimawandel-Leugnern gegen die Verbreitung der Ergebnisse der Klimaforschung. Die Hockeyschläger-Kurve von 1999 ist blau eingezeichnet, die grünen Punkte basieren auf kürzlich veröffentlichten neuen Daten (PAGES 2K-Projekt) die rote Kurve auf Daten der Climate Research Unit in Großbritannien. (Abbildung: Climate Research Unit)
Klimawandel-Bewusstsein auf wackeligen Beinen
In Deutschland gilt das Wissen um die Zusammenhänge von Treibhausgas-Emissionen und zunehmendem Klimawandel als fest im öffentlichen Bewusstsein verankert. Ist diese Beurteilung begründet? Es gibt Zweifel. Im Frühjahr 2013 hatt
en Forscher rund um die Soziologie-Professorin Anita Engels vom KlimaCampus der Universität Hamburg eine umfassende Untersuchung dieses „Klimawandel-Bewusstseins“ veröffentlicht. Bei ihrer Studien-Auswertung kommen die Forscher zu dem Ergebnis, dass sich Befragte in der Mehrheit kaum offen zu einem „Klima-Skeptizismus“ bekennen. Dennoch rechnen die Wissenschaftler mit Behinderungen der „Energiewende“ durch kritische Positionen in der Bevölkerung. Einen einfachen Umbau der Energieversorgung sehen sie unter anderem durch die Ablehnung weiter steigender Energiekosten und durch den zukünftigen lokalen Protest gegen den Bau energietechnischer Anlagen gefährdet. Darüber hinaus attestieren die Forscher der Bevölkerung, dass ihr das erforderliche alltagstaugliche Klimaschutzwissen fehlt. – Offenbar steht das Klimawandel-Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit auf „wackeligen Beinen“.
Zusammen mit Kollegen vom KlimaCampus der Universität Hamburg veröffentlichte die Soziologie-Professorin Anita Engels im Frühjahr eine Untersuchung des „Klimawandel-Bewusstseins“ in der Bundesrepublik. Obwohl sich nur eine Minderheit offen zu einem „Klima-Skeptizismus“ bekennt, rechnen die Wissenschaftler mit Behinderungen der „Energiewende“ durch kritische Positionen in der Bevölkerung. (Abbildung: Universität Hamburg)
Klima-Skeptiker tummeln sich im Buchmarkt und im Internet.
In den letzten Jahren hatten andere Studien bereits gezeigt, dass die Besorgnis der Bevölkerung über den Klimawandel in der Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise merklich stagnierte. Inzwischen werden die Folgen der zukünftigen Klimaveränderungen zwar wieder ernster genommen. Doch es gibt neue Formen der „Klimawandel-Skeptik“, welche die Akzeptanz von Klimaschutz-Maßnahmen schwächen. So analysiert der bereits erwähnte amerikanische Soziologe Riley E. Dunlap in einer vor kurzem veröffentlichten Studie den internationalen Trend „Klima-skeptischer“ Publikationen. Er beobachtet eine Welle wissenschaftskritischer Klimawandel-Bücher. Kennzeichen dieser „Leugnungs-Literatur“ ist, was sich auch in Deutschland an den stark vermehrt publizierten Klima-skeptischen Büchern beobachten lässt: Diese „Werke“ stammen von fachfremden Autoren, die nicht den Mainstream der Klima-Forschung vertreten. Ihre Texte wurden darüber hinaus nicht, wie unter ernsthaften Forschern üblich, einem peer-review-Prozess unterworfen – stellen also „private Meinungsäußerungen“ dar.
Der Psychologe Stephan Lewandowskyvon der University of Western Australia untersucht in einer ebenfalls in diesem Jahr herausgegebenen Studie ein weiteres Feld, das Klima-Skeptiker für die Meinungsgestaltung der Öffentlichkeit beackern: Internet Blogs sind in den letzten Jahren verstärkt zu Plattformen des Zweifels am Klimawandel geworden – Blogger übernehmen eine Vorreiter-Rolle bei der Infragestellung von Forschungsergebnissen, wobei sie die absurde Legende einer „Verschwörung“ der Mainstream-Klimaforscher spinnen. Der „Klimawandel-Ethnologe“ Werner Kraussvom Helmholtz Zentrum Geesthaacht berichtet, dass die Diskussion Klima-skeptischer Themen längst auch in der deutschen „Blogosphäre“ heimisch geworden ist. Beiträge auf Klimawandel-Weblogs erhalten laut Krauss ein enorm großes Echo.
Keine Treibhausgasemission-reduzierte Gesellschaft ohne transparente Kommunikation
Es sind oft prominente Vertreter der Klimawissenschaften, die versuchen, mit ihren eigenen Blogs gegenzuhalten. Einer von ihnen ist Stefan Rahmstorf, deutscher Ozeanograph, Klimaforscher und Professor an der Universität Potsdam. Seit Jahren zeigt er immer wieder Beispiele dafür auf, wie “Klimaskeptiker” mit unseriösen Scheinargumenten Zweifel an bestens gesicherten Erkenntnissen der Klimaforschung sähen.
In einem Gespräch während der Recherchen für diesen Beitrag verweist er auf Analysen in der Scientific Community, die belegen, dass annähernd 98 % der Klimaforscher von der Evidenz der anthropogenen globalen Erwärmung überzeugt sind. Dass Vertreter der 2%-Restgruppe mit häufig unterdurchschnittlicher Expertise in den Medien aus Ausgewogenheits-Gründen immer wieder breites Gehör findet, hält Rahmstorf für schädlich:
„Viele Menschen sind verunsichert und wissen nicht mehr, was sie glauben sollen. Sie meinen, die Ursachen des Klimawandels seien unter Experten immer noch umstritten. Diese Fehleinschätzung behindert und verzögert eine effektive Klimaschutzpolitik bis heute.“
Ines Weller, Professorin am Forschungsinstitut Nachhaltigkeit, Universität Bremen, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Debatten über den Klimawandel anders als über Umwelt- und Naturschutz typischerweise durch Skepsis, Unsicherheiten und mangelndes Vertrauen geprägt sind. Eine Klimawandel-Debatte, die keine Akzeptanz und Transparenz erreichen kann, droht deshalb die Durchsetzung Klimawandel-bezogener Verhaltensänderungen in der Bevölkerung zu behindern. Ohne eine überzeugende Klimawandel-Kommunkation ist die kostspielige „Transformation“ in eine Treibhausgasemission-reduzierte Gesellschaft offenbar unerreichbar. Dabei steckt der Teufel im Detail, ist die Überzeugung von Kommunikations-Verantwortlichen aus der Industrie, beispielsweise von Dr. Joachim Fleing– Investor Relations Representative der Phoenix Solar AG:
„Klare und korrekte Aussagen der Meinungsführer in Politik und Medien sind beispielsweise notwendig, um die Rolle der ‘Ausgleichsmechanismusverordnung’ von 2010 offenzulegen: Durch sie wurde die EEG-Umlage vom Ausbau der erneuerbaren Energien abgekoppelt und ihr rapider Anstieg erst erzeugt. Und dieser Anstieg kommt gerade nicht der Bevölkerung oder den Erzeugern erneuerbarer und Klimagas-befreiter, sondern denen konventioneller Energie zugute.“
Ausgewählte Quellen
Klima-Campus der Universität Hamburg https://www.klimacampus-hamburg.de/start/
Riley E. Dunlap
Riley E. Dunlap and Peter J. Jacques; Climate Change Denial Books and Conservative Think Tanks: Exploring the Connection, 2013 57 American Behavioral Scientist 2013 57: 699 – https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/0002764213477096
Stephan Lewandowsky
Stephan Lewandowsky, Klaus Oberauer, Gilles E. Gignac;
NASA Faked the Moon Landing—Therefore, (Climate) Science Is a Hoax: An Anatomy of the Motivated Rejection of Science – March 26, 2013 https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/0956797612457686
Sechs Empfehlungen, wie eine bessere Klima-Kommunikation mehr Menschen in ihrem Alltag erreicht und den Klimaschutz voranbringt, hat Prof. Dr. Michael Brüggemann formuliert. https://www.clisap.de/de/clisap/ueber-uns/news/detail/sechs-thesen-fuer-eine-konstruktive-klima-kommunikation/
Anita Engels
Anita Engels, Otto Hüther, Mike Schäfer, Hermann Held
Public climate-change skepticism, energy preferences and political participation https://doi.org/10.1016/j.gloenvcha.2013.05.008
Stefan Rahmstorf
University of Potsdam, Institute of Physics and Astronomy – Head of Earth System Analysis http://www.pik-potsdam.de/~stefan/
Heinz W. Droste; “Klimawandel: Gegen die Vernunft“, in: Sonne Wind & Wärme 10/2013, S. 10
Heinz W. Droste; Turn of the Tide – Gezeitenwechsel; Alibri Verlag, 2015, S. 28-37
Heinz W. Droste; RQ – Entfessele Dein bestes Denken, Pedion Verlag, 2022, S. 444-468
“Rationales Denken geht grundlegend hinaus über Intelligenz.”
Dies ist ein Forschungs-Ergebnis, für das Daniel Kahneman den sogenannten “Wirtschaftsnobelpreis” verliehen bekommen hat.
In den letzten Jahren haben Psychologen auf der Basis der Forschungen, die Kahneman und sein Forschungs-Partner Amos Tversky angestoßen haben, einen großen Katalog mit Denktests entwickelt.
Auf der Basis dieses Katalogs wurde schließlich ein systematischer Gesamttest entworfen, mit dem Sie bald Ihren Rationalitäts-Quotienten messen lassen können. – So wie das heute bereits üblich ist bei der Messung von Intelligenz.
Da dieser Rationalitäts-Quotient (RQ) Denkkompetenzen bewertet, die weit über Intelligenz hinausgehen, werden Sie es wahrscheinlich wissen wollen:
“Wie werde ich mit meinem RQ abschneiden? Wie kann ich meine Rationalität trainieren?”
Auf diesem Weblog haben Sie nun die Gelegenheit, einen Blick auf die Leistungsfähigkeit Ihres rationalen Denkens zu werfen.
Wenn Sie die folgenden 15 Tests probieren, haben Sie eine gute Übersicht über die getesteten Felder.
Nach jedem Test wird jeweils kurz erläutert, welche Denkfähigkeit bewertet wurde.
Testen Sie Ihr Denken vollständig diskret. Ihre Antworten sind nur für Sie selbst sichtbar.
Seit einiger Zeit ist es in Kreisen bildungsbeflissener Konsumenten überregionaler Feuilletonseiten en vogue, darüber zu diskutieren, wir lebten in postfaktischen Zeiten – eine Perspektive, die als bedrückend empfunden wird.
Zum einen bekümmert diese Menschen – mehr oder weniger tiefgründig –, dass Mitbürger – möglicherweise auch sie selbst – sich nicht mehr um Fakten kümmern, sondern vor allem Gefühlen folgen. Parallel schauen sie auf die mediale Präsentation von Politik und vermuten dort die Existenz einer „politischen Postfaktizität“.
Worum es sich hierbei handeln soll, bleibt bei Diskussionen um Postfaktizität als politisches Phänomen oft unklar:
Ist „Postfaktizität“ tatsächlich ein neues Phänomen?
Handelt es sich lediglich um ein Modewort?
Ist „Postfaktizität“ lediglich ein Wort, das dazu dient, in Headline besagter Feuilletonseiten Leserinteresse zu binden?
Oder steckt hinter „Postfaktizität“ tatsächlich – wie es im Feuilleton überregionaler Zeitungen behauptet wird – sogar eine Krise der Relevanz und Glaubwürdigkeit empirischer Wissenschaft und um einen Verfall von Realität, Objektivität und Wahrheit?
In diesem Beitrag werde ich dieser „Postfaktizität“ auf den Grund gehen und dazu ein paar wissenschaftstheoretische Argumente ins Spiel zu bringen.
Mancher Leser wird die Aufregung um „Postfaktizität“ wahrscheinlich für überflüssig und zumindest für übertrieben halten. An sich scheint die Behauptung von Postfaktizität Nonsens zu sein: Denn, diejenigen, die propagieren, heute hätte das Faktische seine Macht verloren, können im Handumdrehen widerlegt werden. Dann, wenn jemand behauptet, realistische Fakten zählten nicht mehr, stellt er eine Tatsachenbehauptung auf – etwas, dessen Unmöglichkeit er im selben Atemzug behauptet hat. – „Postfaktizität“ macht so gesehen keinen Sinn.
Dennoch: Aus der Soziologie ist bekannt, dass Menschen in Gesellschaften nicht allein durch objektive Tatsachen beeinflusst werden. Das sogenannte Thomas-Theorem der Soziologen William I. Thomas und Dorothy S. Thomas besagt, dass menschliches Handeln als reale Konsequenz von vollständigen irrealen Situationsdefinitionen auftreten kann: „Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich.“
Es hat sich immer wieder gezeigt, dass zynische Menschen, die über ausreichend Meinungsmacht verfügen – etwa in den Massenmedien – aufgrund einseitiger Motive Irreales Wirklichkeit werden lassen können. Vorausgesetzt, die von diesen Zynikern bearbeiteten Menschen, sind für die betreffende Einflüsterung empfänglich. Der Soziologe Robert K. Merton hat es mit Bezug auf das Thomas-Theorem so ausgedrückt: Die Interpretation einer Situation verursacht das Verhalten von Akteuren sowie deren Wahrnehmungen und ihr Denken – nicht die Dinge selbst. (1)
Wie ist das möglich?
Wahrheits-Leugnung – Quelle des allgegenwärtigen Bullshits
Steigen wir ein in die detaillierte Diskussion der Realitäts- und Postfaktizitäts-Problematik!
Wenn wir unsere Überlegungen in einem Zustand psychischer Gesundheit und auf der Basis unseres Alltagsverständnisses starten, können wir uns kaum vorstellen, dass an der Gültigkeit von Realität und Wahrheit gezweifelt werden kann.
Wir setzen die Begriffe Wahrheit und Falschheit voraus und routiniert scheiden wir tagtäglich Wahres von Falschem.
Bereits als Kinder lernen wir zwar das situative „Flunkern“ schätzen, erkennen aber – wenn die Sozialisation in üblichem Maß gewirkt hat -, dass, wenn es tatsächlich ernst wird, der Einsatz von Wahrheit unverzichtbar ist. Nicht nur um erfolgreich zu handeln, sondern auch um zu Mitmenschen eine harmonische Beziehung zu entwickeln. Wir wissen, was es heißt, über Dinge wahre Aussagen zu treffen, genauso wie wir wissen, was es bedeutet, wenn jemand statt der Wahrheit die Unwahrheit sagt. Das heißt, wir können grundsätzlich Lügen identifizieren.
Dennoch tritt in unserer Gesellschaft die Skepsis gegenüber den Begriffen Realität und Wahrheit zu Tage – und das mit Macht.
Die beschriebene „objektive“ Weltsicht des Alltags wird laufend zum Schwanken gebracht. Dass dieser Tatsache seit einiger Zeit bei einem größeren Publikum Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist Verdienst des mittlerweile emeritierten US-amerikanischen Philosophie-Professors Harry G. Frankfurt von der Princeton University. Zwei seiner Aufsätze wurden in Buchform bei uns zu Bestsellern: „On Bullshit“ („Bullshit“) und „On Truth“ („Über die Wahrheit“) (2).
Hier analysiert Frankfurt verbalen Unrat – Bullshit –, der heute umfangreich öffentlich unter anderem über die Massenmedien in Umlauf gebracht wird. Dabei stellt Frankfurt als wesentliche Erkenntnis heraus, dass bei der äußerst wirkungsvollen Verbreitung von Bullshit die Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit eine entscheidende Rolle spielt. Die Grenzen zwischen dem, was wahr und dem was falsch ist – was real und was nicht real ist –, sind aus seiner Sicht in öffentlichen Diskussionen aufgelöst worden. Als Antreiber des Prozesses der Wahrheits-Leugnung identifiziert Frankfurt Intellektuelle, welche die Missachtung von Realitäten und Wahrheiten systematisch betreiben.
Aus seiner Sicht ist der lässige Umgang mit der Wahrheit ein bekanntes Phänomen – den meisten Zeitgenossen stoße es nicht weiter auf, dass es bestimmte Typen von Publizisten, Journalisten und Politikern gibt, die gewohnheitsmäßig ihr Spiel mit der Wahrheit treiben.
Als erfahrene Medienkonsumenten setzen wir voraus, dass diese Personen ihre manipulativen Unwahrheiten und „Fake-News“ einsetzen, um Lügen zu propagieren, Kampagnen zu realisieren und letztlich ihre Geschäfte zu machen. Wir wissen, dass sie fehlende Überzeugungskraft ihrer Argumente ständig durch die Wirkung von Lügen und Halbwahrheiten ersetzen.
Frankfurt vermutet, dass die meisten Mitmenschen dies durchschauen, aber annehmen, vor diesen Manipulationen ausreichend auf der Hut zu sein.
Was ihn zum Veröffentlichen seiner beiden kleinen Schriften antrieb, ist ein anderer, beunruhigender Typus der Wahrheitsleugnung. Als Urheber macht er Bestseller-Autoren ausfindig, die ihr falsches Spiel mit der Wahrheit treiben, obwohl einige von ihnen sich in der Vergangenheit als geachtete Vertreter der Geistes- und der Naturwissenschaften Renommee verschaffen konnten. Zu seinem Bedauern muss Frankfurt gestehen, dass auch prominente zeitgenössische Vertreter der Philosophie – eine Gruppe von Intellektuellen, deren ausgesprochene Liebe zur Wahrheit, er bisher voraussetzte – maßgeblich in die von ihm beobachtete Beseitigung der Schätzung von Wahrheit verstrickt sind.
Diese treten unter anderem als sogenannte „postmoderne“ und „postfaktische“ Widersacher der Vernunft auf, um selbstgerecht grundsätzlich anzuzweifeln, dass Wahrheit und objektive Realität sinnvolle Begriffe wären. Sie widersprechen der in den empirischen Wissenschaften verbreiteten Grundannahme, dass es stets objektiv bestimmbare Fakten gibt, die für die Beurteilung von Meinungen und Annahmen ausschlaggebend sind. Aus ihrer Sicht gibt es lediglich Meinungen, die Menschen legitimerweise unter Absehen von objektiv bestimmbaren Fakten für sich annehmen könnten, wenn sie mögen. Dass sich Meinungen grundsätzlich anhand der Feststellung einer Sachlage objektiv überprüfen und beurteilen lassen, schließen sie aus.
Wie gesehen basiert für diese Postmodernisten und Vertreter der Postfaktizität der Wahrheits-Glaube auf dem subjektiven Standpunkt von Individuen – Wahrheiten, gäbe es so viele, wie es beurteilende Subjekte gibt. Als versteckten Auslöser des Wahrheits-Glaubens sehen sie im Weiteren soziale Zwänge. Angeblich wird unsere Realitätssicht stets durch ökonomische, kulturelle oder politische Zwänge vollständig determiniert – wir sehen angeblich nur, wozu uns die umgebenden Verhältnisse treiben.
Frankfurts Fazit ist: Diese Intellektuellen verwerfen in ihren häufig populären Beiträgen die Unterscheidung von dem, was wir im Alltag für wahr und falsch halten. Sie behaupten, es gäbe nichts unbestreitbar Objektives sowie keine zwingenden Kriterien, zur Feststellung von Wahrheiten.
Vorsicht – Rinderkot!
Frankfurt ist angesichts der von ihm beobachteten intellektuellen Entwicklung offensichtlich ernsthaft beunruhigt. Allerdings verharmlost er den beschriebenen Wahrheits-Verlust durch die Verwendung des Bullshit-Begriffs entscheidend:
Mit Bullshit bezeichnet er den Tatbestand, dass in ständig mehr populären Beiträgen haltlose Meinungen verbreitet werden, für deren Inhalte niemand ernsthaft Anspruch auf Wahrheit erhebt oder voraussetzte, diese entsprächen der Realität. Aus seiner Sicht ist dieser Bullshit eine substanzlose intellektuelle „Ausscheidung“, die auf der Leugnung der Bedeutung von Wahrheit basiert, und eine lästige „Verunreinigung“ unserer öffentlichen Kommunikation bewirkt. Die Lage sei ernst, aber noch gäbe es keine wirklichen Opfer: Noch sieht Frankfurt unsere Kultur als intakt – die Belastung durch Bullshit hätte es bisher nicht vermocht, diese lahmzulegen.
Doch ist diese beschwichtigende Bewertung nicht Ergebnis der Art und Weise wie die an Universitäten betriebene Schul-Philosophie die Gesellschaft und die in ihr ablaufenden Prozesse von ihrem „akademischen Elfenbeinturm“ aus betrachtet? – Wer Philosophie studiert, beschäftigt sich vor allem mit dem Zitieren und Deuten von Schriften, die auf Autoren zurückgehen, die in der Fachgemeinschaft als Philosophen anerkannt sind. Die akademische Philosophie erforscht vor allem den Sinn von Texten, beschränkt sich mit anderen Worten auf die Anwendung sogenannter hermeneutischer Verfahren.
Das kann, wie am Beispiel Frankfurts gesehen, zu interessanten Ergebnissen führen. Es hat sich als enorm öffentlichkeitswirksam erwiesen, auf die Abscheulichkeit eines Tatbestands hinzuweisen, indem dieser als „Rinderkot“ bezeichnet wird. Doch diese Beschränkung auf Textdeutung und die Verwendung von amüsanten Metaphern trägt Gefahren in sich: Das Problem hinter dem beschriebenen Realitäts- und Wahrheits-Verlust kann durch falsche Assoziationen bewirkt gefährlich verharmlost werden: In der Realität ist Bullshit schließlich nützlich – er kann auf einen Acker verteilt den Ertrag der nächsten Ernte erhöhen. Außerdem kann das unbedachte Treten in Bullshit uns zwar momentan unsere gewohnte Trittsicherheit nehmen – ernstzunehmende Gefahr geht nicht von ihm aus.
Das Problem mit der Realität und der Wahrheit geht wesentlich tiefer.
Was kann Philosophie?
Wer mit Harry G. Frankfurt übereinstimmt in der Einschätzung, dass Bullshit tatsächlich ein überbordendes Phänomen unserer Zeit ist, wird ahnen, dass reale Mechanismen hinter dieser Erscheinung stecken. Um die Folgen von Realitäts- und Wahrheitsverlust abschätzen zu können oder gar zu erfassen, wie diesen Folgen begegnet werden kann, benötigen wir offenbar solides Wissen über reale Vorgänge in unserer gemeinsamen Welt. Das sind Dinge, die sich außerhalb von Büchern und jenseits unserer Lesezimmer abspielen. Eine lediglich sprachliche Betrachtung und eine Kritik an leichtsinniger Sprachverwendung lässt uns unbefriedigt angesichts unseres Bedürfnisses, möglichst genau einzuschätzen, welcher Entwicklung unser Leben unterworfen ist und welche Gefahren sich möglicherweise für unsere Zukunft formieren, wenn wir reale Dinge in unserer Umgebung verkennen.
Frankfurt ist Philosophie-Professor – werfen wir zwischendurch einen Blick die Geschichte der Philosophie, um zu sehen, wie es dazu kam, dass sich große Haufen mit Rinderkot bilden konnten:
Das philosophische Denken der Neuzeit entwickelt sich in engem Zusammenhang mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaften seit dem 16. Jahrhundert. Die Philosophie wird durch die Fortschritte der empirischen Wissenschaften inspiriert, sie kommentiert und begleitet diese. Einen Höhepunkt erreicht diese Entwicklung zu Zeiten der französischen Aufklärung im 18. Jahrhundert. Zu dieser Zeit arbeiten und denken Philosophen in enger Abstimmung mit ihren wissenschaftlichen Kollegen. Sie übernehmen es, die Geltungsansprüche der Wissenschaften erkenntnistheoretisch zu prüfen und zu gegebenenfalls zu begründen. Für den dabei praktizierten klassischen Rationalismus ist typisch, dass deren philosophische Vertreter auf der einen Seite Impulse und Anregungen zur Fortentwicklung der Wissenschaften geben, aber auch ihrerseits wesentliche Orientierungen aus den Ergebnissen der Arbeit der wissenschaftlichen Zeitgenossen beziehen.
Diese Kommunikation zwischen Wissenschaft und Philosophie traf auf starken Widerstand. So startet in Deutschland als Reaktion auf die Aufklärung eine sich als äußerst einflussreich erweisende, bis heute aktive Gegenbewegung. Hier prägen sich der deutsche Idealismus und die Romantik als „gegenaufklärerische“ Bewegung gegen den klassischen Rationalismus aus. Im Zuge dessen wird der Typus der sogenannten „Geisteswissenschaften“ als Gegenmodell der modernen objektiven empirischen Wissenschaften erfunden und propagiert.
Im Feld der Philosophie bekämpfen die Gegenaufklärer von nun an systematisch – teils versteckt, teils offen – den Glauben an Vernunft und an die Möglichkeit, mit Mitteln empirischer Wissenschaft, echte Erkenntnis zu erreichen. Gegen Ende des 20. Jahrhundert ist als Ergebnis der skizzierten Gegenaufklärung schließlich die Wissenschaftstheorie durch diese anti-rationalistische Entwicklung in Mitleidenschaft gezogen worden. Damit sind sich selbst die Vertreter derjenigen Disziplin, die sich mit der Untersuchung der Struktur, der Entwicklung und den Geltungsansprüchen wissenschaftlicher Erkenntnisse beschäftigt, nicht mehr sicher, ob rational geplante Wissenschaft wahres Wissen erreichen kann. „Anything goes“- „Mach was Du willst“, um es anhand eines bekannten Slogans des Autors Paul Feyerabend zu illustrieren. Angeblich gibt es keine rationalen und allgemein gültigen Regeln zur Anleitung der Forschung, die das Erreichen der Wahrheit sicherstellen könnten. Objektive Erkenntnisse der Wissenschaft kann es nicht geben, weil deren Hypothesen gemäß Feyerabend nicht durch empirische Untersuchungen zu Fall zu bringen sind und unabhängig von eventuell konträren Forschungsergebnissen behauptet werden.
Die Kritik an modernen Wissenschaften und Technologien in Verbindung mit der Kritik an der Rationalität ist im Zuge dieser Entwicklung zum zentralen Grundsatz mancher Philosophien geworden. Die Ablehnung wissenschaftlichen Vorgehens und der objektivierenden wissenschaftlichen Sprache hat beinahe schon den Status eines philosophischen “Gemeinguts” erlangt. Im Nachkriegs-Deutschland wird die Ablehnung der klassischen Rationalität und deren enge Verbindung zur modernen Wissenschaft, wie sie zu Zeiten der Aufklärung bestand, beispielsweise federführend von der „kritischen Theorie“, also den Vertretern der sogenannten „Frankfurter Schule“ getragen. – Als Frankfurter Schule wird eine Gruppe von Autoren bezeichnet, die sich auf die Werke von Hegel, Marx und Freud berufen. Die Vertreter dieser “Schule” eint eine generelle Kritik des instrumentellen und funktionalistischen Vernunftgebrauchs im Spätkapitalismus. Empirisch belegte Untersuchungen konkreter Institutionen oder gar aus solchen abgeleitete Konzepte für mögliche institutionelle Reformen hat die Frankfurter Intellektuellen-Gruppe nicht vorgelegen können. (3)
Eng verknüpft mit einem Zweifel am Wert des Humanismus ist diese Wissenschafts-Feindlichkeit ebenfalls Hauptmotiv der Schriften Martin Heideggers, die nicht nur bis heute das philosophische Denken in Deutschland, sondern auch die Entwicklung der “postmodernen Philosophie” in Frankreich beeinflusst hat.
Wissenschaft = Ideologie?
Hätte sich die Wirkung dieser philosophischen Gegenaufklärung auf intellektuelle Zirkel in kulturellen Nischen unserer Gesellschaft beschränkt, wäre kaum Schaden entstanden. Dadurch, dass sie allerdings Lehrer an großen Hochschulen beeinflussen konnte, bekam sie über lange Zeiträume Einfluss auf die „geisteswissenschaftliche“ Ausbildung von Studierenden. Konsequenz ist, dass bis heute Journalisten in überregionalen Medien „gegenaufklärerisch“ geprägt sind. Dass hat Folgen für die Art und Weise in der beispielsweise Themen im Feuilleton bearbeitet werden und Buchveröffentlichungen von Autoren besprochen werden, die Träger der als Bullshit gekennzeichneten Missachtung von Realität und Wahrheit sind. Charakteristisch für solche Medien, die häufig sogar als „Organe“ der höheren Bildung positioniert sind, scheint, dass sie die mehr oder weniger offen ausgesprochene Distanz gegenüber den empirischen Wissenschaften entweder mittragen oder zumindest tolerieren.
Mario Bunge – ebenfalls in Nordamerika lehrender Philosophie-Professor – verweist in diesem Zusammenhang auf den Fall der Gleichsetzung von Wissenschaft und Technologie. Der Autor Jürgen Habermas, aber auch andere Vertreter der „kritischen Theorie“, hätten zwei „Gleichungen“ aufgestellt, für die sie allerdings nie überzeugende Beweise vorgelegen konnten, da sie grundlegend falsch und unrealistisch sind (4). Zum einen behaupteten sie: „Wissenschaft = Technologie“ und darüber hinaus „Wissenschaft/Technologie = Ideologie des Spätkapitalismus“. Unglücklicherweise haben sich diese Gleichsetzungen in öffentlichen Diskussionen erfolgreich durchsetzen können. Und das obwohl Wissenschaft und Technologie zwei grundlegend voneinander getrennt zu betrachtende Tatbestände sind.
Es lohnt sich, den Grund dafür anzusehen: Grundwissenschaften etwa beschäftigen sich mit der Wahrheit von Tatsachenbehauptungen; Forscher in diesem Feld beurteilen Wahrheit oder Falschheit dieser Behauptungen mit Blick auf objektive Fakten, also unabhängig von politischen oder wirtschaftlichen Interessen. An einem Beispiel: Die Feststellung, dass Wasserstoffmoleküle meist über zwei und nicht etwa über fünf Atome verfügen, gilt unabhängig von den ideologischen Vorlieben oder von der Höhe des Gehalts der diese Annahme für wahr haltenden Forscher. Denn Wasserstoffmoleküle haben tatsächlich meist zwei Atome. Kurz gesagt: Forscher beurteilen ihren Gegenstandsbereich in ihrer Rolle als Wissenschaftler aufgrund objektiver Fakten. Sollten sie das nicht tun, verletzten sie die Regeln ihrer wissenschaftlichen Disziplin und werden früher oder später aufgrund der Kritik ihrer Kollegen aus dem Wissenschaftsfeld gedrängt. Im Fall der Technologien sehen die Umstände durchaus anders aus. Hier arbeiten beispielsweise Ingenieure auf der Basis wissenschaftliches Wissen zum Nutzen ihrer Auftraggeber oder Arbeitgeber. Auch dieses Wissen muss objektiv sein und auf unverfälschten Wahrheiten beruhen, andernfalls könnten die Techniken, die sie entwickeln nicht funktionieren. Allerdings können die Ergebnisse ihrer Arbeit für einseitige Interessen genutzt werden. Bei diesen einseitigen Interessen können tatsächlich Ideologien eine Rolle spielen.
Wie gesehen kritisieren professorale Intellektuelle, die sich vor allem auf den Idealismus Hegels und die Dialektik Marx’ berufen, empirische Wissenschaften. Ihre Strategie besteht aus einer unhaltbaren Gleichsetzung eines ökonomischem Konzepts – Kapitalismus – mit einer Methode der sachlich begründeten Wissensgewinnung. Als “Geisteswissenschaftler” bemühen sie sich offensichtlich darum, ihren Status als “Inhaber einer höheren Vernunft” zu verteidigen. Statt empirisch begündete, aktuell relevante Kritik etwa an Technologie-Anwendungen zu üben, nehmen sie für sich eine moralisch höhere Warte in Anspruch, von der aus Fakten vermeintlich keine Rolle spielen. Sie benutzen damit eine “antifaktische” Strategie, um ihre Position als Denker höherer Ordnung zu untermauern. Ist eine solche antifaktische Haltung harmlos oder ist sie mit Risiken verbunden? – Das ist sie! Und das offenbar insbesondere dann, wenn sie von der breiten Öffentlichkeit geteilt wird. – Warum?
Risiken der Wahrheitsverweigerung: Leugnung der menschenbewirkten Klimaveränderung
Wenn wissenschaftliche Rationalität und Erfahrung auf der Basis der unkorrekten Gleichung „Wissenschaft = Technologie“ verdammt und Wissenschaftlern grundsätzlich einseitige politische und wirtschaftliche Interessen unterstellt werden, bleibt das nicht ohne schwerwiegende Konsequenzen. Wissenschaftliches Wissen droht in der Folge in einer Gesellschaft soweit an Akzeptanz einzubüßen, dass ernstzunehmende Risiken entstehen. Risiken, die darauf beruhen, dass notwendige Korrekturen an Fehlentwicklungen nicht mehr vorgenommen werden können. Fehlentwicklungen, die auf der Basis einer realistischen Philosophie objektiv analysierbar und realistisch lösbar wären.
Starten wir mit der Betrachtung solcher Fehlentwicklungen und deren möglicher philosophischer „Behandlung“ – beginnen wir bei einer Katastrophe, die zukünftig das Schicksal vieler Millionen Menschen bestimmen wird:
In ihrem vielbeachteten gemeinsamen Buch „Merchants of Doubt“ (5) beschreiben die Wissenschaftshistoriker Naomi Oreskes und Erik Conway, wie ein kleiner einflussreicher Kreis von Personen wichtige politische Entscheidungen verhindern konnte, indem er die beschriebene „Labilität“ der Akzeptanz empirischer Wissenschaften strategisch für seine eigennützigen Ziele ausnutzt. Dabei richteten sie sich unter anderem gegen Forschungsergebnisse zu Gefahren von Tabakkonsum und zur Klimaerwärmung. Ihnen gelang es, kompetente Fachwissenschaftler soweit einzuschüchtern, dass diese es nicht wagten, die zweifelsfrei feststehenden Fakten und Wahrheiten öffentlich zu vertreten.
Oreskes und Conway führten dies unter anderem auf eine Paradoxie zurück. Sie beobachteten, dass sich Wissenschaftler durch ihre Selbstverpflichtung auf Sachkenntnis und Objektivität in einer heiklen Lage befinden, wenn es darum geht, falschen Behauptungen zu widersprechen. Der in der Öffentlichkeit durch gewisse Intellektuelle stetig genährte Grundverdacht, Wissenschaftler verfolgten insgeheim ideologische oder politische Interessen, führt bei ihnen zu einem Zustand der Einschüchterung. Sie haben Angst davor, ihnen könnte vorgeworfen werden, sie hätten ihre fachliche Objektivität verloren. Deshalb neigen sie dazu, sich herauszuhalten, wenn beispielsweise die Klimaerwärmung und ihre schädlichen Auswirkungen öffentlich diskutiert werden.
Insgeheim hoffen sie auf die sich selbst verwirklichende Kraft der Wahrheit: Forscher sehen es zwar als ihre Aufgabe an, herauszufinden, was wahr ist. Wird demgegenüber irgendwo Unsinn verbreitet, glauben sie, es müsste sich jemand anderer darum kümmern, was häufig aber nicht geschieht.
Aufgrund dieser Einstellung sind Wissenschaftler eine leichte Beute derjenigen politischen und wirtschaftlichen Manager, die den Tatbestand der sogenannten „anthropogenen“ globalen Erwärmung unserer Atmosphäre leugnen. Trotz grundlegender, durch Forschung bestens gesicherter Erkenntnisse der Klimaforschung gelingt es diesen „Klimaskeptikern“ ohne großen Widerstand den menschlichen Ursprung der schnell voranschreitenden Klimaveränderung in Zweifel zu ziehen. Dazu brauchen sie lediglich öffentlich zu behaupten, die Wissenschaft wäre sich nicht einig über die negativen Klimafolgen jahrhundertelanger industrieller Ausbeute unserer Erde.
Basis der Wissenschaften sind Diskussionen über Forschungsergebnisse. Fakten werden analysiert und von parallel arbeitenden Forschungsteams unterschiedlich bewertet. Wissenschaftliche Diskussionen sind daher in vielen Phasen der Wahrheitsfindung konträr. Das mag Außenstehende irritieren – doch im Fall der Klimaforschung herrscht ungewöhnliche Einhelligkeit unter den Spezialisten. 98% der Klimaforscher sind von der Evidenz der anthropogenen Erwärmung überzeugt. Lediglich die restlichen 2 % sind Skeptiker, die allerdings wesentlich weniger Fachpublikationen vorzuweisen haben als die Mehrheit der überzeugten Wissenschaftler. Obwohl die 2%-Splittergruppe lediglich über unterdurchschnittliche Expertise verfügt, schenken ihnen die Medien ein unverhältnismäßig großes Echo. Journalisten sind hierzu bereit, weil sie offenbar glauben, in ihren Stories stets „beiden Seiten“ Raum geben zu müssen – die Objektivität von Argumenten oder gar die Wahrheit, der von der „anderen Seite“ behaupteten Tatbestände wollen oder können sie nicht beurteilen. Ergebnis ist, dass viele Menschen bis heute verunsichert sind. Sie nehmen irrigerweise an, dass die Ursachen des Klimawandels unter Experten umstritten sind. Sogar, dass es überhaupt einen Klimawandel gibt, sind manche Bevölkerungskreise zu bezweifeln bereit.
Fazit: Heute wird beklagt, in Diskussionen nähme die Berücksichtigung von Fakten zu wenig Raum ein.
Dies ist kein neues Problem. Es ist grundsätzlich schwierig, sachlich begründete Rationalität im Rahmen von Entscheidungen zu mobilisieren.
Diese Rationalität als Ressource zu entwickeln und zu nutzen, ist eine wichtige Herausforderung der nächsten Jahre und Jahrzehnte.
Richtiges Denken und Entscheiden ist angesichts der Komplexität unserer Welt und der Bedrohlichkeit von Entwicklungen kein Luxus, sondern Überlebens-Voraussetzung.
Anmerkungen
(1) Siehe:
Droste, Heinz W.; Kommunikation. Planung und Gestaltung öffentlicher Meinung – Band 2: Mechanismen; Neuss 2011; S. 489-528
Merton, Robert K.; „The Thomas Theorem and the Matthew Effect”; in: Social Forces, 74 (2), December 1095; S. 379 – 424
Merton, Robert K.; „Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen”; in Topitsch, Ernst (Hg.); Logik der Sozialwissenschaften; Königstein/Taunus 1980 (10); S. 144-61
Thomas, William Isaac; Dorothy Swaine Thomas; The Cild in America. Behavior Problem and Programs; New York 1928
(2)
Harry G. Frankfurt, Bullshit, Frankfurt 2006
Harry G. Frankfurt, Über die Wahrheit, München 2007
(3)
Richard Münch; Die Kultur der Moderne, Frankfurt 1986; S. 683-742
(4)
Mario Bunge, Evaluating Philosophies, Dortrecht, Heidelberg, New York, London; 2012
(5)
Originalversion:
Naomi Oreskes; Erik Conway, Merchants of Doubt. How a Handful of Scientists Obscured the Truth on Issues from Tobacco Smoke to Blobal Warming; New York/Berlin/London 2010
Deutsche Ausgabe:
Naomi Oreskes; Erik Conway; Die Machiavellis der Wissenschaft: Das Netzwerk des Leugnens; Weinheim: 2014
Design
Fotos gefunden auf Unsplash – Fotografen:
Ján Jakub Naništa, Martin Sanchez, Jon Tyson, Kayla Velasquez, Christian Gertenbach, Elijah O’Donnell, Alex Iby, Markus Spiske, Valentin Lacoste, Jasper Wilde, Dikaseva und Juan Davila.
Internationales Renommee bei der Erforschung des rationalen Denkens
Keith E. Stanovich gehört zu den meistzitierten zeitgenössischen Psychologen. Beispielsweise sein klassischer Artikel aus dem Bereich der Entwicklungs-Psychologie über den Matthäus-Effekt in der Bildung wurde in der wissenschaftlichen Literatur über 1.500 Mal zitiert. – In der letzten Zeit haben der Wissenschaftler und sein Team sich auf die menschliche Rationalität konzentriert und deren besondere Rolle als kognitive Kompetenz neben der Intelligenz herausgearbeitet. In diesem Zusammenhang prägte Stanovich unter anderem den Begriff Dysrationalität, um die Neigung von Individuen zu bezeichnen, irrational zu denken und handeln, obwohl sie über ausreichende Intelligenz verfügen. In ihrem letzten Buch „The Rationality Quotient: Toward a Test of Rational Thinking“, das 2016 veröffentlicht wurde, entwickelten Stanovich und seine Kollegen das Grundkonzept eines umfassenden Tests rationalen Denkens.
Maßgebliche psychologische Experten sind vom Konzept der Rationalitäts-Quotienten überzeugt wie ein Statement von Daniel Kahneman von der Princeton University – Gewinner des Nobelpreises für Wirtschaft 2002 – belegt:
Der Rationalitätsquotient ist ein bedeutender Fortschritt in der Psychologie der Rationalität. Er stellt die beste Analyse der kognitiven Fehler in der wissenschaftlichen Literatur dar und liefert überzeugende Argumente dafür, die Rationalität unabhängig von der Intelligenz zu messen.
Daniel Kahneman, 2016
Mancher von Stanovich psychologischen Kollegen leitet aus dessen Arbeiten zur Rationalität ab, dass auf der Basis des darin steckenden Wissens irrationales Denken auf Seiten – beispielsweise von kognitiven Eliten – wirkungsvoll eingedämmt werden kann. Dieser Schlussfolgerung widerspricht Keith E. Stanovich in seinem neuen Buch, das kurz vor der Veröffentlichung steht. Aus seiner Sicht behindert der sogenannte Myside Bias vielfach rationales Denken und Handeln insbesondere von politischen und intellektuellen Eliten. Ich hatte Gelegenheit, mir im Rahmen eines Interviews seine Analysen erklären zu lassen und mit Keith E. Stanovich über die daraus folgenden Konsequenzen für die Bewältigung aktueller globaler Krisen zu diskutieren.
Lesen Sie selbst:
Frage 1 – Motivation
Ich möchte mit einer Fragestellung beginnen, die wahrscheinlich bei der Einleitung Ihres neuen Buchs eine große Rolle spielt:
Wieso widmen Sie, nachdem Sie sich mit zahlreichen unterschiedlichen Verzerrungen menschlichen Urteilens auseinandergesetzt haben, ausgerechnet dem Myside Bias ein ganzes Buch? In der Vergangenheit hatten Sie und Ihre Kollegen sich in Ihrem Labor bereits auf die Untersuchung individueller Unterschiede in der Myside-Voreingenommenheit konzentriert. – Hat diese Urteilsverzerrung eine besonders nachteilige Wirkung?
Keith E. Stanovich #1 – Allgegenwärtigkeit der Myside-Verzerrung
Meine Gruppe untersuchte den Myside Bias seit dem Jahr 2000, aber mein spezieller Fokus darauf begann 2016, nachdem wir The Rationality Quotient veröffentlicht hatten. Am 8. November 2016 fanden in den Vereinigten Staaten Präsidentschaftswahlen statt, und die Art meiner E-Mail-Korrespondenz änderte sich plötzlich. Ich erhielt viele E-Mails, die implizierten, dass ich nun für meine Studienzwecke die perfekte Bevölkerungsgruppe hätte – Trump-Wähler -, die in den Augen meiner E-Mail-Kontaktpartner (die meisten von ihnen Vertreter sozialwissenschaftlicher Fakultäten an Universitäten) offensichtlich irrational waren.
Im Anschluss an die Wahl erhielt ich auch viele Einladungen, als Redner aufzutreten. Mehrere dieser Einladungen waren mit der subtilen (oder manchmal nicht ganz so subtilen) Implikation versehen, dass ich mich – im Anschluss des „theoretischen“ Teils meines Vortrags – auch über das mangelhafte rationale Denken der Wähler äußern sollte, die der Nation diese schreckliche Sache angetan hatten. Eine europäische Konferenz, die um meine Teilnahme bat, hatte sich zum Ziel gesetzt zu verstehen, wie das offensichtlich fehlerhafte Denken nicht nur der Trump-Wähler, sondern auch der Brexit-Wähler funktioniert. Ich – der Autor eines Tests zum rationalen Denken – wurde als der ideale Kandidat angesehen, um dieser Irrationalitäts-Deutung von Verhalten das Prädikat von Wissenschaftlichkeit zu verleihen.
Doch ich schrieb einen Essay, in dem ich all diesen Gesprächspartnern erklärte, dass ich ihnen nicht geben konnte, was sie wollten – und dass es bei keiner Definition von Rationalität Beweise dafür gab, dass Trump- und Clinton-Wähler signifikant unterschiedlich waren.
Nachdem ich den Essay geschrieben hatte, fiel mir auf, dass meine Gesprächspartner eine unserer Erkenntnisse über den Myside-Bias perfekt illustrierten, denn offenbar wurde deren Urteilsverzerrung in Bezug auf die Einschätzung der Rationalität von Trump-Wählern nicht durch Intelligenz oder Bildung abgeschwächt. Meine Kollegen waren intelligent und hochgebildet, aber ihr Glaube, dass die Trump-Wähler (oder die Brexit-Wähler) irrational waren, war ein perfektes Beispiel für den Myside-Bias. Sie schienen anzunehmen, dass Intelligenz zu ideologischer “Korrektheit” führt. Eine solche Ansicht ist selbst höchst irrational.
Diese allgegenwärtige Verbreitung des Myside-Bias, sogar unter kognitiven Eliten, war es, die mich dazu brachte, mein neues Buch zu schreiben.
Für liberal gesinnte Menschen schwer zu verkraften: Die Forschung konnte nicht beweisen, dass Trump-Wähler irrationaler waren als Hillary Clinton-Wähler. (Bildrechte: History in HD – Unsplash)
Frage Nr. 2 – Merkmale und Auftreten
Sie beziehen sich wahrscheinlich auf Ihren Essay “Were Trump Voters Irrational”, der im September 2017 auf Quillette veröffentlicht wurde.
Vor einiger Zeit – als ich diesen Essay las – muss ich zugeben, war ich anfangs schockiert, als Sie zeigten, dass es offenbar keine “Partei der Wissenschaft” gibt:
Sie erklären an anschaulichen Beispielen, wie sich die Befürworter beider Parteien (Demokraten und Republikaner) offenbar darin unterscheiden, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse sie akzeptieren und welche wissenschaftlichen Fakten nicht ihren Moralvorstellungen entsprechen und deshalb ignoriert werden.
Worin sich die Befürworter aller Parteien nicht unterscheiden, ist Ihrer Meinung nach die Tatsache, dass sie systematisch kognitiv verzerren, was nicht zu ihrer Gruppenidentität passt.
Mein „Schock“ hat mich einerseits meine eigene Myside-Verzerrung und andererseits die Allgegenwärtigkeit dieser Störung deutlich spüren lassen.
Mit Blick auf Ihr neues Buch scheint also die drängende Fragestellung zu sein: Wo tritt dieser Myside-Bias regelmäßig auf? – Wie lässt er sich bei Einzelpersonen und im Gruppenverhalten feststellen?
Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Brexit-Anhänger von Irrationalität getrieben waren, als sie beschlossen, nicht in der EU zu bleiben. (Bildrechte: Fred Moon – Unsplash)
Keith E. Stanovich #2 – Allgegenwart der Myside-Verzerrung
Sie haben in vielen Punkten Recht. Ich beziehe mich auf meinen 2017 in Quillette erschienenen Essay, in dem ich den Irrationalitäts-Vorbehalt gegenüber den Wählern analysierte und feststellte, dass die Forschungs-Literatur keine Hinweise darauf enthielt, dass die Trump-Wähler weniger rational (oder weniger intelligent oder weniger sachkundig) gewesen wären als die Clinton-Wähler. Im gleichen Essay zeigte ich, dass diese Schlussfolgerung ziemlich parallel zu der Feststellung steht, dass keine der politischen Parteien in den Vereinigten Staaten die Partei der Wissenschaft ist. Beide akzeptieren die Wissenschaft oder lehnen sie ab, je nachdem, ob die Folgerungen daraus mit der politischen Strategie übereinstimmen, die ihre ideologische Position kennzeichnet. Auf diese Weise haben Sie völlig Recht, wenn Sie die Feststellung zusammenfassen, dass Anhänger aller Ideologien ihr Verständnis von wissenschaftlichen Erkenntnissen verzerren, die nicht zu ihrer Gruppenidentität passen.
Und Sie haben Recht, wenn Sie auf diese Befunde reagieren, indem Sie die Allgegenwärtigkeit des Myside-Bias unterstellen. Das ist eines der wichtigsten Ergebnisse, die ich in dem neuen Buch skizziere. Die Forschung hat gezeigt, dass sich Myside-Voreingenommenheit in einer Vielzahl von Versuchssituationen zeigt: Menschen bewerten die gleiche verdienstvolle Handlung günstiger, wenn sie von einem Mitglied ihrer eigenen Gruppe ausgeführt wird, und bewerten eine negative Handlung weniger ungünstig, wenn sie von einer Reihe Vertreter ihrer eigenen Gruppe ausgeht; sie bewerten das identische Experiment günstiger, wenn die Ergebnisse ihre früheren Überzeugungen unterstützen, als wenn die Ergebnisse ihren früheren Überzeugungen widersprechen; bei der Suche nach Informationen wählen Menschen Informationsquellen aus, die wahrscheinlich ihre eigene Position unterstützen; und selbst wenn sie aufgefordert werden, ausgewogene Argumente vorzubringen, erzeugen Menschen stets mehr Argumente für ihre eigenen Überzeugungen.
Sogar die Interpretation einer rein numerischen Ergebnisdarstellung wird in die Richtung der früheren Überzeugung des Probanden „gedeutelt“. Ebenso werden aussagenlogisch gültige Urteile durch die früheren Überzeugungen von Personen verzerrt. Gültige Syllogismen mit der Schlussfolgerung “deshalb sollte Marihuana legal sein” sind für Liberale leichter als richtig zu beurteilen – dagegen für Konservative schwieriger; wohingegen gültige Syllogismen mit der Schlussfolgerung “deshalb hat niemand das Recht, das Leben eines Fötus zu beenden” für Liberale schwerer und für Konservative leichter als richtig zu beurteilen sind. Ich höre an dieser Stelle aus Platzgründen auf, Beispiele zu erwähnen, obwohl ich noch nicht einmal damit begonnen habe, die vielen verschiedenen Forschungsansätze aufzuzählen, die Psychologen zur Untersuchung des Myside-Bias verwendet haben. Wie ich in meinem neuen Buch “The Bias That Divides Us” (Die Voreingenommenheit, die uns trennt) darlege, zeigt sich die Myside-Voreingenommenheit nicht nur bei laborgestützten Forschungen. Stattdessen charakterisiert sie unser Denken im realen Leben.
Anfang Mai 2020 fanden in mehreren Hauptstädten der US-Bundesstaaten Demonstrationen statt, um gegen die als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie verordnete Politik des “Stay-at-home” zu protestieren. Die negativen Kommentare an diesen Demonstrationen waren stark parteipolitisch geprägt – die eine (linke) Seite beklagte die gesellschaftlichen Gesundheitsrisiken der Demonstrationen, während die andere (rechte) Seite das Anliegen der Demonstranten unterstützte. Nur wenige Wochen später kehrten sich diese parteipolitischen Haltungen mit Blick auf große öffentliche Versammlungen vollständig um, als aufgrund einer Reihe anderer Gründe neue Massendemonstrationen stattfanden.
Offenbar gibt es keine “Partei der Wissenschaft”. Politiker verbünden sich nur dann mit Wissenschaftlern, wenn dies ihren politischen Werten und Interessen entspricht: Sigfried Hecker, Direktor des Los Alamos National Laboratory mit Sekretärin Hazel O’Leary und Präsident William Clinton (Fotorechte: History in HD – Unsplash)
Frage Nr. 3 – Resultate aus der realen Welt
Sie haben soeben darauf hingewiesen, dass Sie mit dem Myside-Bias keineswegs ein bloßes Laborphänomen zur Diskussion stellen, sondern etwas Reales, das unser Denken im wirklichen Leben beeinflusst. In Ihrem letzten Buch “The Rationality Quotient” haben Sie diesen Aspekt mehrfach erwähnt. Zum Beispiel hatten Sie eine umfangreiche Liste von “Ergebnissen aus der realen Welt” zusammengestellt, die von Verzerrungen herrühren. Wie wird es in Ihrem neuen Buch aussehen? Inwieweit werden Sie “aus dem Labor heraustreten” und die Ergebnisse der Myside-Verzerrungen in der realen Welt analysieren?
Keith E. Stanovich #3 – zweideutige Situationen führen zu einer Verzerrung
Ich benutze Beispiele aus einer Vielzahl von Bereichen, aber der fruchtbarste Bereich ist das, was wir allgemein als Politik, Regierungspolitik und Ideologie bezeichnen könnten. Ich beschreibe zum Beispiel die Debatten über die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten. Es gibt viele Menschen, die glauben, dass die Todesstrafe Verbrechen abschreckt, und andere, die glauben, dass sie es nicht tut. Es gibt Menschen, die glauben, dass viele unschuldige Menschen für Verbrechen verurteilt werden, und andere Menschen, die glauben, dass nur wenige unschuldige Personen für nicht verübte Straftaten verurteilt werden. Beachten Sie jedoch, dass wenn die Häufigkeit dieser Beurteilungen in einer 2 x 2-Matrix dargestellt werden, zwei der Matrix-Zellen „überbelegt“ und zwei „unterbelegt“ sind. Viele Menschen verbinden ihre Überzeugung, dass die Todesstrafe Verbrechen abschreckt, mit dem Glauben, dass nicht viele Unschuldige für Verbrechen verurteilt werden. Demgegenüber zeigen viele Menschen die Überzeugung, dass die Todesstrafe Verbrechen nicht abschreckt verbunden mit der Annahme, dass viele Unschuldige für Verbrechen verurteilt werden. (Erläuterung des Übersetzers: Offenbar „bündeln“ die Befragten ihre Überzeugungen so, dass diese jeweils die positive Bewertung der Todesstrafe bzw. deren negative Bewertung stützen). Fast niemand vertritt jedoch die beiden übrigen Überzeugungs-Kombinationen, die beide äußerst plausibel sind: die Beurteilung, dass die Todesstrafe Verbrechen abschreckt, kombiniert mit der Annahme, dass viele Menschen unschuldig verurteilt werden; oder der kombinierte Glaube, dass die Todesstrafe Verbrechen nicht abschreckt, zusammen mit dem Standpunkt, dass wenige Menschen unschuldig verurteilt werden.
Dies deutet darauf hin, dass die Bewertungen darauf zurückgehen, dass die einzelnen Einschätzungen nicht unabhängig voneinander gebildet wurden. Stattdessen war die Bewertung der beiden unterschiedlichen Aussagen – per Myside-Bias – jeweils mit der positiven bzw. der negativen Bewertung der Todesstrafe verbunden.
Als die Proteste gegen die Polizeigewalt ausbrachen, war die Kritik an den Covid-19-bedingten Risiken von Massendemonstrationen, die einige Wochen zuvor in den Medien dramatisiert worden waren, kein Thema mehr. (Nordwest Washington, Washington, District of Columbia, Vereinigte Staaten – Fotorechte: Vlad Tchompalov – Unsplash)
Frage Nr. 4 – Prävention der Myside-Verzerrung
Sie haben Zweideutigkeiten, die Unklarheit der Situationen und die Komplexität der Fakten als einen Kontext beschrieben, der eine voreingenommene Entscheidungsfindung verursacht. Wie analysieren Sie dies in Ihrem Buch? Behaupten Sie, dass kluge Politiker die unklare Situation bewusst nutzen, um Entscheidungen durchzusetzen, die sonst schwer zu legitimieren wären? Oder werden die Entscheidungsträger selbst unbewusst Opfer ihrer eigenen Voreingenommenheit? Im ersten Fall würden Politiker bewusst die Myside-Voreingenommenheit ihrer Mitbürger ausnutzen, um ihre Ziele und ihre einseitigen Interessen zu verwirklichen. Im zweiten Fall würden Politiker selbst Opfer der Voreingenommenheit werden – anstatt rationale Entscheidungen zu treffen, würden sie unbewusst Entscheidungen in einem psychoanalytischen Sinn “rationalisieren”. Beide Modelle für das Auftreten der Myside-Voreingenommenheit im Zusammenhang mit wichtigen politischen Entscheidungen wären schlecht: Was können wir grundsätzlich tun, um diese Art der Voreingenommenheit zu verhindern?
Keith E. Stanovich #4 – sechs Empfehlungen
Die Antwort ist, dass Ihre beiden Modelle der Funktionsweise der Myside-Voreingenommenheit in der Politik zutreffen. Beide kommen in der politischen Realität vor. Sicherlich sind die Politiker selbst Opfer ihrer eigenen Voreingenommenheit, aber die Parteipolitik selbst ermutigt die politischen Entscheidungsträger, die Myside-Parteinahme als Waffe einzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen – Ziele, die manchmal im Gegensatz zu den Wünschen ihrer eigenen Parteimitglieder stehen. Lassen Sie mich dies in einen Zusammenhang bringen, indem ich zunächst einige der Abschnitte im letzten Kapitel meines Buches aufliste, die sich damit befassen, was wir tun können, um die Auswirkungen der Myside-Voreingenommenheit zu mildern. In diesem Kapitel diskutiere ich:
wie wir den Myside-Bias vermeiden können, indem wir erkennen, dass wir uns von unseren Gegnern nicht deshalb unterscheiden, weil wir bestimmte Fakten kennen, die diesen unbekannt sind, sondern unsere politischen Gegner widersprechen uns stattdessen wegen legitimer Wertunterschiede
dass wir als Individuen unseren Myside-Bias verringern können, indem wir erkennen, dass wir selbst widersprüchliche Werte vertreten
die Erkenntnis, dass der Tatbestand der ständigen Einflussnahme durch soziale Medien eine „Adipositas-Epidemie des Denkens“ verursacht
dass wir das Ausmaß unserer Myside-Voreingenommenheit verringern, indem wir die unbequeme Tatsache anerkennen, dass wir den ideologischen Überzeugungen, die unsere Voreingenommenheit antreiben, nicht ausreichend auf den Grund gegangen sind. Und dass Basis-Überzeugungen – ohne dass wir uns dies bewusst machen – durch unsere genetischen Dispositionen sowie aus unserem sozialen Milieu bewirkt wurden
dass wir uns bewusst machen sollten, dass Parteienbindungen voreingenommener machen, als dies zu unseren politischen Themen passt. Vermeiden Sie Myside-Voreingenommenheit, indem Sie Ihre individuellen Überzeugungen abkoppeln, indem Sie sich von den Großpositionen politischer Organisationen, wie z.B. politischer Parteien freimachen, mit denen Sie sich vielleicht identifizieren. Das heißt, vermeiden Sie Überzeugungen zu aktivieren, die zu einer Myside-Voreingenommenheit führen, indem Sie sich der von politischen Parteien praktizierten prinzipienlosen Bündelung von Themen widersetzen
dass wir uns bei politischen Fragen nicht mit einer spezifischen Gruppe identifizieren und nicht deren Positionen übernehmen sollten, weil dies offenbar unseren Myside-Bias vergrößern würde
Nr. 2 und Nr. 5 oben beziehen sich insbesondere auf Ihren Punkt, dass “Politiker die Myside-Voreingenommenheit ihrer Mitbürger absichtlich ausnutzen, um ihre Ziele und ihre einseitigen Interessen zu erreichen”. Insbesondere trifft dies auf Punkt 5 zu.
Voreingenommenheit wird durch Überzeugungen befeuert, die wir für uns angenommen haben – aber viele dieser Überzeugungen werden durch Parteianhängerschaft angetrieben. Einige der Myside-Verhaltensweisen, die durch diese Anhängerschaft entstehen, sind in gewissem Sinne „unnötig“. Mit unnötig meine ich, dass wir in vielen Fragen keine auf Glaubenssätzen beruhenden Überzeugungen annehmen würden, wenn uns im jeweiligen Zusammenhang der Standpunkt der uns nahestehenden Partei unbekannt gewesen wäre. Die sich stattdessen zeigende überzogene „Hyper“-Parteilichkeit verwandelt überprüfbare bisherige Überzeugungen, die wir mit schwacher Zustimmung vertreten hätten, in zu verteidigende Wertpositionen, an die wir mit der Stärke eines Glaubenssatzes festhalten. Durch unabhängiges Nachdenken wären wir häufig niemals zu dieser Überzeugung gelangt.
Untersuchungen haben gezeigt, dass die meisten Menschen wenig ideologisch veranlagt sind. Sie denken nicht viel über allgemeine politische Prinzipien nach und sie nehmen zu bestimmten Themen nur dann Stellung, wenn diese sie persönlich betreffen. Von Thema zu Thema neigen ihre Positionen dazu, inkonsistent zu sein, statt von einer kohärenten politischen Weltanschauung zusammengehalten zu werden, die sie deutlich artikulieren können. Studien tendieren zu der Erkenntnis, dass lediglich Personen Positionen zu bestimmten Themen auf eine Art und Weise vertreten können, die wie eine Ideologie aussieht, die tief in Politik involviert und/oder extrem hochgebildet sind und sich ständig in hochkarätige Medienquellen vertiefen.
Tatsächlich weisen beide Seiten in unseren parteilichen Debatten – oft überzeugend – darauf hin, dass die Positionen auf der Gegenseite auf inkohärente Weise zusammengestellt wurden, und diese Taktik wird oft mit Erfolg eingesetzt. In der Abtreibungsdebatte ist es üblich, dass Selbstbestimmungsrechts-Befürworter auf die Inkonsistenz der Abtreibungsgegner hinweisen, die das Leben von Ungeborenen, nicht aber das Leben von Strafgefangenen im Todestrakt erhalten wollen. Dieses Argument wird oft wirkungsvoll und überzeugend vorgetragen. Entsprechendes gilt jedoch auch für das umgekehrte Argument der Abtreibungsgegner, welche auf die Inkonsequenz von Selbstbestimmungsrechts-Befürwortern hinweisen, die gegen die Todesstrafe sind. Letztere scheinen den Tod des Ungeborenen zu akzeptieren (zunehmend – zumindest in der Demokratischen Partei – bis zum Zeitpunkt der Geburt), nicht aber den Tod von Kriminellen. Selbstbestimmungsrechts-Befürworter kontern oft mit dem Argument, dass unschuldige Menschen hingerichtet worden seien, woraufhin ihre Gegner darauf hinweisen, dass alle Ungeborenen ebenfalls unschuldig seien. Sowohl die Selbstbestimmungsrechts-Befürworter als auch Abtreibungsgegner weisen jeweils auf die Inkonsequenz ihrer Gegner hin und scheinen überzeugende Argumente zu haben. Passend wäre in dieser Situation die Empfehlung, dass beide Seiten ihre Meinung zumindest in einem dieser Punkte, wenn nicht sogar zu beiden, mäßigen sollten. Beide Gruppen vertreten in diesen beiden Fragen inkonsistente Standpunkte, weil ihre jeweiligen Parteien entsprechende nicht kompatible Grundannahmen gebündelt haben – die Demokraten haben Selbstbestimmungsrechts-Befürwortung mit Anti-Todesstrafe und die Republikaner haben Abtreibungs-Gegnerschaft mit Pro-Todesstrafe gebündelt. Diese beiden Themenfelder sind vom Prinzip her weitaus unabhängiger, als dies aufgrund der engen Bündelung dieser beiden Themen durch Partei-Vordenker zu erwarten gewesen wäre.
Es gibt weitere Bündelungen, die in der gegenwärtigen Politik zu beobachten sind, die äußerst befremdlich erscheinen. Befürworter von Tierrechten möchten den kollektiven „Schutzschirm“ der moralischen Besorgnis auf diejenigen ausdehnen, die weniger empfindungsfähig und biologisch weniger komplex sind als Menschen. Es scheint also so, als ob Tierrechtsaktivisten grundsätzlich Befürworter des Lebens wären.
Ein Fötus ist weniger empfindungsfähig und biologisch weniger komplex und scheint damit in der vordersten Reihe der Organismen zu stehen, die den erweiterten moralischen Schutz benötigen, wie dieser im Zentrum der Tierrechtsposition steht. Wenn wir jedoch die Verteilung politischer Einstellungen empirisch untersuchen, stellen wir fest, dass es stattdessen, ein wenig erschreckend, eine Korrelation in entgegengesetzte Richtung gibt: Menschen, die sich für den Schutz von Tieren aussprechen, die viel weniger komplex und empfindungsfähiger sind als Menschen, unterstützen mit größerer Wahrscheinlichkeit die Abtreibung Ungeborener. Einige Veganerinnen und Veganer zum Beispiel, die mit dem Argument keinen Honig essen, dass dessen Konsum den moralisch definierten Rechten der Bienen schaden könnte, entpuppen sich als lautstarke Befürworterinnen und Befürworter einer uneingeschränkten Abtreibung.
Wir können darüber streiten, ob die Korrelation hier negativ sein sollte oder nicht. Es ist allerdings schwer, sich ein kohärentes moralisches Prinzip auszudenken, das die beiden Haltungen (gleichzeitige Unterstützung des Veganismus und der Abtreibung) in einer geglückten Weise verbindet. Um es klar zu sagen: Ich sage nicht, dass irgendeine der Positionen zu diesen einzelnen Themen (Tierrechte, Veganismus, Abtreibung) falsch oder irrational ist. Ich setze mich lediglich für den viel schwächeren Hinweis ein, dass darauf geachtet werden sollte, wie die Kollisionen von moralischen Urteilen bzw. die unerwartete Korrelation zwischen den Positionen eher darauf zurückzuführen zu sein scheint, dass wir die Parteistrategie akzeptiert haben, diese Themen zu bündeln. Diese Meinungskollisionen sind offenbar nicht das Ergebnis unserer unabhängigen Überlegungen zu diesen Themen.
Dass die Bündelung von Themenpositionen aus Gründen der politischen Zweckmäßigkeit erfolgt, wird durch die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Veränderungen der politischen Positionen, die innerhalb der Parteien stattfinden können, nachdrücklich bestätigt. Es dauerte nur wenige Jahre, bis die Republikaner von einer Partei, die während der Amtszeit von Präsident Obama gegenüber Haushaltsdefiziten kritisch eingestellt war, zu einer Partei avancierte, die unter der Trump-Administration massive Haushaltsdefizite in Kauf nimmt. Es dauerte nicht viel länger, bis die Demokraten von einer Partei, die sich gegen illegale Einwanderung wendete, weil sie die Löhne gering qualifizierter Arbeitskräfte drückt, zu einer Partei der Zuflucht wurde, zum Fürsprecher jeder Person, die die Grenze ohne Ausweispapiere überquert. Diese Verschiebungen werden durch Veränderungen in der Wahlstrategie verursacht, nicht durch die Umsetzung politischer Prinzipien.
Die Einsicht in diesen Tatbestand kann genutzt werden, um unseren eigenen Myside-Bias zu dämpfen. Bedenken Sie, dass Ihre politische Partei, statt sich an einer abstrakten Ideologie zu orientieren, wie eine soziale Identität funktioniert, und dass sie Themen bündelt, um ihren eigenen Interessen statt Ihren Bedürfnissen zu dienen.
Die Protestbewegung gegen den Klimawandel hätte aus der Sicht von Keith E. Stanovich in der Öffentlichkeit erfolgreicher sein können. Denn als prominenter politischer Vertreter einer Partei könnte Al Gore die Wirkung von Umweltschutzkampagnen abgeschwächt haben. (Bildrechte: Markus Spiske – Unsplash)
Frage Nr. 5 – Wie können globale Probleme gelöst werden?
Zunächst möchte ich versuchen, Ihre Analyse kurz zu rekapitulieren: Aus Ihrer Sicht könnten wir als Akteure gegen unsere Myside-Vorurteile ankämpfen,
wenn wir erkennen, dass wir bei Auseinandersetzungen mit Gegnern nicht um Fakten ringen, sondern stattdessen um legitime Wertunterschiede und auf diese Weise letztlich um gegensätzliche legitime Interessen
indem wir anerkennen, dass wir als Akteure oftmals versuchen, Werte und Interessen zu erfüllen, die miteinander unvereinbar sind
durch die Erkenntnis, dass unser Urteilsvermögen durch eine Epidemie des Einflusses der sozialen Medien eingeschränkt ist
dass wir anerkennen, dass die Überzeugungen, die unsere Myside-Voreingenommenheit vorantreiben, im Wesentlichen von zwei Grundlagen beeinflusst werden: Durch die biologische Evolution – durch die genetischen Voraussetzungen unseres Denkens – und durch unsere soziale Evolution und Sozialisation
dass wir anerkennen, dass wir einem parteilichen Tribalismus – einem Stammesdenken – ausgesetzt sind, der uns dazu beeinflusst, willkürlich gebündelte Werthaltungen und Meinungen zu übernehmen
durch die Anerkennung der Einseitigkeit der Identitätspolitik.
Habe ich Ihre Analyse korrekt zusammengefasst?
Die menschliche Spezies ist zunehmend durch ihre Unfähigkeit, rationale Entscheidungen zu treffen, bedroht. Wie Sie zeigen, rührt dieses Problem oft von Wertorientierungen, Wertekonflikten und manipulierten Wertehaltungen her.
Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund unsere Chancen für die Zukunft, Probleme wie die aktuelle Pandemie, den Klimawandel und die dadurch verursachten zunehmenden Umweltkatastrophen und so weiter zu lösen? Werden die Menschen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten lernen, mit Wertekonflikten umzugehen? Gibt es Mittel und Wege, das notwendige rationale und reflektierende Denken von Einzelpersonen und Entscheidungsträgern in Gruppen zu stärken – effektiv und rechtzeitig?
Oder sind wir, wie der Moralpsychologe Jonathan Haidt es bildlich umschrieben hat, “emotionale Hunde”, deren rationale Reflexionen nur eine untergeordnete Rolle spielen, indem sie uns mehr oder weniger wirkungslos mit dem “rationalen Schwanz” im Hinblick auf globale Probleme wedeln lassen?
Keith E. Stanovich #5 – Probleme werden nicht durch mehr Wissen gelöst – sondern durch die Einsicht in die eigenen Grundüberzeugungen
Sie haben meine Empfehlungen in Kapitel 6 richtig zusammengefasst. – Jonathan Haidt hat sein duales Prozessmodell, bei dem rationale Reflexionen den Emotionen des Systems 1 (Erläuterung des Übersetzers: „System 1“ im Sinne der Terminologie in Kahnemans Besteller: „Schnelles Denken – langsames Denken“: automatisches, schnelles Denken) erheblich untergeordnet sind, im Kontext des moralischen Denkens entwickelt. Sein Modell lässt sich recht gut auf die moralische Argumentation anwenden, aber rationale Reflexionen können eine umfassendere Rolle bei der Eindämmung einiger der anderen Verzerrungen, die in der heuristics & biases-Literatur eine Rolle spielen (framing biases, base rate neglect, anchoring biases, vividness biases etc.). Die schlechte Nachricht in meinem Buch ist jedoch, dass die Myside-Verzerrung tatsächlich dem Fall der moralischen Argumentation mehr ähnelt als anderen Verzerrungen in der Literatur, da sie durch Haidts Modell ziemlich gut beschrieben wird.
Der Myside-Bias wird durch die Stärke der Überzeugungen zu bestimmten Themen befeuert. Diese Überzeugungen haben jedoch als wesentliche Ursache angeborene psychische Neigungen und soziales Lernen während des gesamten Lebens einer Person – beides steht nicht unter der Kontrolle des Einzelnen. Bei den Überzeugungen handelt es sich um Meme, die die Person zumeist nicht reflexiv erworben hat, sondern um Ideen im sozialen Milieu, die zum Temperament des Einzelnen passen.
Die einzige gute Nachricht hier ist Empfehlung Nr. 4: Wenn Menschen erkennen, dass die Überzeugungen, die sie anstellen, weniger bewusst gewählt sind, als sie dachten, halten sie diese Überzeugungen vielleicht mit geringerer Intensität. Wenn die Intensität der Überzeugungen verringert wird, kann die Voreingenommenheit verringert werden.
Was schließlich Ihre Fragestellung zur aktuellen Pandemie und zum Klimawandel betrifft, möchte ich noch einmal auf Empfehlung Nr. 2 hinweisen, und Empfehlung Nr. 5 liefert hier die Antwort. Beide Themen sind auf der Basis des Parteien-Antagonismus politisiert worden, wodurch unsere Fähigkeit beeinträchtigt wird, beide Probleme anzugehen. Was die Pandemie in den Vereinigten Staaten anbelangt, so fanden, wie ich bereits erwähnt habe, Anfang Mai 2020 Demonstrationen in mehreren Hauptstädten der US-Bundesstaaten statt, um gegen die vorgeschriebene Politik des stay-at-home zu protestieren. Die meisten Mainstream-Medien verurteilten diese Demonstrationen als eine Bedrohung der öffentlichen Gesundheit. Als jedoch innerhalb weniger Tage nach dem ersten Aufmarsch neue Demonstrationen zu einem völlig anderen politischen Thema stattfanden, lobten die Massenmedien die neuen Demonstrationen, obwohl sie eine ebenso große Bedrohung für die öffentliche Gesundheit darstellten. Dies hatte zur Folge, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Massenmedien abnahm. Der Myside-Bias hat die Fähigkeit beeinträchtigt, der Öffentlichkeit Informationen zu vermitteln, denen Vertrauen geschenkt werden kann. Und natürlich tun unsere Regierungen und Politiker das Gleiche – sie verurteilen und billigen inkonsequent äquivalente Aktionen auf der Grundlage der an den Aktionen beteiligten Interessengruppen.
Die entscheidende Strategie besteht darin, so etwas wie Maßnahmen gegen die Pandemie erst gar nicht zu politisieren. Etwas Ähnliches stellt sich im Fall des Klimawandels dar. Als Al Gore in den Vereinigten Staaten begann, das Thema Klimawandel gegenüber einer umfassenden Öffentlichkeit zu propagieren, dachte ich, das sei eine gute Sache, denn jetzt würde die Öffentlichkeit besser informiert werden. Aber im Laufe der Jahre sah ich mit Schrecken, dass der Umstand, dass Al Gore zum “Frontmann” für die Belange des Klimawandels geworden war, sich zu einer negativen Sache wandelte. Die Tatsache, dass er ein bekannter Politiker war, führte dazu, dass das Thema nach “stammespolitischen” / parteilichen Gesichtspunkten politisiert wurde. Mir ist jetzt klar, dass es viel besser gewesen wäre, die Öffentlichkeit durch politisch neutralere Gesprächspartner langsamer zu informieren, auch wenn dadurch die Verbreitung von Wissen über den Klimawandel verlangsamt worden wäre. Der Tempoverlust bei der Verbreitung wäre mehr als wettgemacht worden, wenn wir die Informationen in einer Weise hätten verbreiten können, die nicht zur Parteinahme einlädt.
Und schließlich möchte ich dazu anregen, sich auf die obige Empfehlung Nr. 2 zu besinnen. Vermeiden Sie, was der Politologe Arthur Lupia als den „Fehler der Umwandlung von Wertunterschieden in Unwissenheit“ bezeichnet – d.h., einen Streit über legitime Unterschiede in der Gewichtung der für ein Thema relevanten Werte fälschlicherweise für einen Streit um Fakten zu halten, bei dem Ihr Gegner “die bloßen Fakten nicht kennt”.
Der Klimawandel liefert ein Beispiel: Die Verringerung der Umweltverschmutzung und die Eindämmung der globalen Erwärmung erfordern oft Maßnahmen, die als Nebeneffekt das Wirtschaftswachstum bremsen. Die zukünftigen Steuerzahlungen und regulatorischen Auflagen, die notwendig sind, um die Umweltverschmutzung und die Erderwärmung deutlich zu reduzieren, gehen oft überproportional zu Lasten der Armen. So schränkt beispielsweise die Erhöhung der Kosten für den Betrieb eines Automobils das Autofahren ärmerer Menschen stärker ein als das der Wohlhabenden – durch die Schaffung von Stauzonen, durch höhere Parkgebühren sowie höhere Fahrzeug- und Benzinsteuern. Gleichermaßen gibt es keine Möglichkeit, die globale Erwärmung zu minimieren und gleichzeitig die Wirtschaftsleistung (und damit die derzeitigen Arbeitsplätze und allgemeinen Wohlstand) zu maximieren. Die Menschen unterscheiden sich darin, wo sie ihre “Parametereinstellungen” für den zukünftigen Kompromiss-Ausgleich zwischen dem zukünftigen Umweltschutz und dem gegenwärtigen Wirtschaftswachstum ansiedeln. Unterschiedliche Parametereinstellungen bei Themen wie diesem sind nicht notwendigerweise auf mangelndes Wissen zurückzuführen. Sie sind das Ergebnis unterschiedlicher Werte oder unterschiedlicher Weltanschauungen.
Es wäre nicht überraschend, wenn die unterschiedlichen Werte, die Menschen verfolgen, zu einem gesellschaftlichen Kompromiss führen könnten, der in seinen Extremen keiner der beiden Gruppen gefällt. Es stellt den Höhepunkt der Myside-Voreingenommenheit dar zu denken, dass, wenn alle intelligenter, rationaler oder weiser wären, sie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ausgerechnet dort platzieren würden, wo sie ihre eigenen Idealbedingungen sehen. Es gibt keine empirischen Beweise dafür, dass mehr Wissen oder Intelligenz oder Reflexivität solche Werte / -Nutzen-Diskrepanzen auflösen könnte.
Wenn Liberale sehen, dass Konservative grüne Initiativen ablehnen, werfen sie den Konservativen vor, die Auswirkungen der globalen Erwärmung auf die Zukunft nicht zu verstehen. Wenn Konservative sehen, dass Liberale teure grüne Initiativen unterstützen, werfen sie den Liberalen vor, die Gegebenheiten nicht zu verstehen, durch die ein Rückgang des Wirtschaftswachstums zu mehr Armut und wirtschaftlicher Not für die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft führt. In beiden Fällen sind dies falsche Charakterisierungen. Die meisten Konservativen interessieren sich für den Zustand der Umwelt und für die Auswirkungen der globalen Erwärmung. Die meisten Liberalen verstehen, dass wirtschaftliches Wachstum Not verhindert und Armut verringert. Oft kennen beide Gruppen die Tatsachen – sie gewichten nur den Wertkompromiss, um den es hier geht, unterschiedlich: die Vermittlung zwischen Sorge um die Auswirkungen der künftigen globalen Erwärmung auf der einen Seite mit dem Interesse an der Aufrechterhaltung eines maximalen Wirtschaftswachstums auf der anderen Seite. Je mehr wir uns bewusst werden, dass es bei einem bestimmten Thema Wertkompromisse zu berücksichtigen gibt, desto weniger verwirrt werden wir sein.
Die vielen Email-Schreiber, die sich über die Wahlergebnisse von 2016 ärgerten und mich nach der Veröffentlichung meines Buches über rationales Denken kontaktierten, sind Mitglieder einer weltweiten kognitiven Elite. Diese Gesprächspartner dachten (fälschlicherweise, wie ich in meinem neuen Buch demonstriere), dass jede Studie über das menschliche Denkens Futter für ihre Ansicht liefern würde, dass die entscheidenden Wähler sowohl in Großbritannien (Brexit) als auch in den Vereinigten Staaten (die Präsidentschaftswahlen) irrational waren. Meine Ansprechpartner schienen der Meinung zu sein, dass politische Auseinandersetzungen ausschließlich Fragen der Rationalität oder des Wissenserwerbs sind – und dass überlegenes allgemeines (oder spezifisches) Wissen automatisch Korrektheit im politischen Bereich verleiht. Sie schienen der Meinung zu sein, dass, da ich als akademischer Forscher ein Spezialist für Rationalität und Wissen bin, ich auf der Basis dieses Fachwissens über besondere Weisheit auf dem Gebiet der Politik verfügen müsste. Kurz gesagt, meine Gesprächspartner schienen den Fehler zu machen, von dem Arthur Lupia spricht: Ihren Gegnern vorzuwerfen, “die Fakten nicht zu kennen”, einfach weil Sie wollen, dass sich Ihre eigene Weltanschauung als Faktenlage durchsetzt.
Als kognitive Eliten können wir unseren Myside-Bias zähmen, indem wir erkennen, dass in vielen Fällen unsere Auffassung, dass bestimmte Fakten (die wir aufgrund des Rosinenpickens zufälligerweise kennen) unseren politischen Gegnern schockierenderweise unbekannt sind, in Wirklichkeit nur ein eigennütziges Argument darstellt. Es dient dazu, die Tatsache zu verschleiern, dass hinter dem umstrittenen Thema, über das wir sprechen, ein ungelöster Wertekonflikt steckt. Dass wir uns auf die angebliche Ignoranz unserer Gegner konzentrieren, ist eine List, um zu verschleiern, dass wir lediglich unsere eigenen Wertvorstellungen durchsetzen wollen – und nicht, dass es bei dem Thema um einen Streit geht, der durch mehr Wissen gelöst werden kann.
Nr. 6 – SCHLUSSFOLGERUNG
Professor Stanovich – vielen Dank für Ihre Geduld und die ausführliche Aufklärung!
Keith E. Stanovich ist emeritierter Professor für angewandte Psychologie und Entwicklungspsychologie an der Universität von Toronto. Er lebt jetzt in Portland, Oregon, USA. Sein demnächst erscheinendes Buch ist: The Bias That Divides Us: The Science and Politics of Myside Thinking (MIT Press, 2021). (Fotorechte: privat)
Übersetzung: Heinz W. Droste, 19.08.2020
Links
Keith E. Stanovich (September 28, 2017): “Were Trump Voters Irrational?” – Quillette
Stanovich, K. E. (2004). The robot’s rebellion: Finding meaning in the age of Darwin. Chicago: University of Chicago Press.
Stanovich, K. E. (2009). What intelligence tests miss: The psychology of rational thought. New Haven, CT: Yale University Press.
Stanovich, K. E. (2010). Decision making and rationality in the modern world. New York: Oxford University Press.
Stanovich, K. E. (2011). Rationality and the reflective mind. New York: Oxford University Press.
Stanovich, K. E. (2021). The Bias That Divides Us: The Science and Politics of Myside Thinking. Cambridge, Massachusetts/London, England: The MIT Press.
Stanovich, K. E., West, R.F., Toplak, M. E. (2015). The Rationality Quotient: Toward a Test of Rational Thinking. Cambridge, Massachusetts/London, England: The MIT Press.
Moral Psychology
Greene, J. (2013). Moral Tribes: Emotion, reason, and the gap between us and them. New York: Penguin Press.
Haidt, J. (2001). The emotional dog and its rational tail: A social intuitionist approach to moral judgement. Psychological Review 108: 814-834.
Haidt, J. (2012). The righteous mind: Why good people are divided by politics and Religion. New York: Pantheon.
Angesichts der Corona-Pandemie hat die internationale Wissenschaftsgemeinschaft beeindruckende Tatkraft bewiesen und in kürzester Zeit große Erkenntnisfortschritte beispielsweise rund um die Wirkmechanismen beim Eindringen in den menschlichen Körper erreicht.
Wer etwa Mitglied der American Association for the Advancement of Science (AAAS) – der weltweit größten Wissenschafts-Gesellschaft – ist, konnte anhand des Science-Newsletters und der wöchentlichen Ausgabe des Wissenschafts-Magazins Science just-in-time am ständigen Erkenntniswachstum teilhaben. Die AAAS hatte dazu eine spezielle COVID-19-News-Rubrik eingerichtet, die auch heute am 8. September 2020 ständig aktualisiert in Funktion ist.
Einer der Slogans der AAAS lautet „Now is the Time to Listen to Science” – „Jetzt ist es Zeit, auf die Wissenschaft zu hören“. – Schauen wir zurück auf die letzten Monate und fragen kritisch: Wird angesichts Corona tatsächlich auf die empirischen Wissenschaften und ihre Resultate gehört? – Hat insbesondere das Auftreten von wissenschaftlichen Experten sowie der Wissenschaft zugeneigten Intellektuellen für Klarheit, Orientierung und zur Lösung von Problemen geführt?
Wissenschaftliche Experten: Professoren – das eine oder andere Mal gegeneinander ausgespielt
Zwar hat das Auftreten von inzwischen prominenten Professoren für starkes mediales Echo gesorgt. Es haben sich sozusagen Vertreter der Wissenschaft gefunden, die bereit waren, öffentlich dem medialen Sirenengesang mit ihrerer Ruhmesverheißung zu folgen. Das Interesse der Bundesbürger an den journalistischen Produkten der klassischen Medienkanäle – Presse, Funk und Fernsehen – wurde dadurch beflügelt.
So konnte ein Virologen-Podcast eines öffentlich-rechtlichen Senders durch die Beteiligung des Viren-Experten der Berliner Charité zum preisgekrönten Medienereignis werden.- „Der Spiegel“ landete kürzlich mit seinem Heft 32/2020 im Einzelhandel einen Bestseller mit dem Corona-Titel „Sind wir zu leichtsinnig?“
Das nur zu ein paar herausgegriffenen „Glanzpunkten“.
Kann deshalb gesagt werden: „Science sells“?
Wohl kaum! – Was sich in elektronischen Medien, Printmedien sowie auf deren Online-Plattformen verkaufte, waren nicht die wissenschaftlichen Daten, bestätigte oder falsifizierte Hypothesen – es war die mitunter dramatische Inszenierung von Wissenschaftlern als öffentliche Intellektuelle, die medial besonders lukrativ war: Von öffentlich ausgetragenen Streitigkeiten rund um Auftritte in Talksendungen, über Berichte von per Post an Forscher verschickten Morddrohungen bis zu einem von der größten deutschen Boulevard-Zeitung aufgebauschten Pseudo-Wissenschaftsskandal war eine große Bandbreite an Auflagenzahlen garantierenden medialen Highlights zu beobachten.
Auch der altgedienten intellektuellen Prominenz wurde eine mediale Arena geboten – zum Beispiel Jürgen Habermas in der Frankfurter Rundschau am 15.04.20. Wie nicht anders zu erwarten, nutzte er die Gelegenheit, um seine Rolle als Kritiker zu spielen und wieder einmal die Erkenntnisansprüche empirischer Wissenschaften grundlegend in Frage zu stellen. Er nutzte das aktuelle Thema um zu betonen, was literate Kulturträger seit ehedem verkünden. „So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie“.
Auch posthum werden angesichts der globalen Krise philosophische Intellektuelle der idealistisch-hermeneutischen Richtung ins Spiel gebracht. Denn “Ausgerechnet in das Corona-Jahr 2020 fällt auch der 250. Geburtstag von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dem Vollender des deutschen Idealismus und immer noch provozierenden Dialektiker. “ (neue Züricher Zeitung 29.06.2020)
Die „Verwender“ von Wissenschaft bewirken schwerwiegende Vertrauensverluste.
Welche Wirkung hatte diese massive Inszenierung von „öffentlichen Intellektuellen“ unterschiedlichster Couleur? Haben die empirischen Wissenschaften und ihre Forschungsresultate dadurch an Akzeptanz gewonnen?
Offenbar im Gegenteil – es ist stattdessen wieder die Wissenschafts-Aversion zu Tage getreten, die in der Bundesrepublik seit langem zu Hause ist. Immer dann, wenn in der Gesellschaft Risiken auftreten und Wissenschaftler um Rat und Orientierung gebeten werden, mündet die öffentliche Diskussion in Kritik an Wissenschaft und ihren Standards. Der Soziologe Ulrich Beck hat als Ursache in seinem Buch „Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne“ bereits im Jahr 1986 die „Autonomisierung der Verwendung von Wissenschaft“ beschrieben. Er beschreibt – um es einfach auszudrücken -, dass Politiker und andere interessierte Kreise sich angewöhnt haben, auf Wissenschaft willkürlich zuzugreifen (Beck 1986, S. 287 – Hervorhebungen vom Autor).
„Die Verwenderseite beginnt sich mehr und mehr mit Wissenschaft von Wissenschaft unabhängig zu machen.“ So (…) „verwandeln sich die Wissenschaften – auch die Naturwissenschaften – in Selbstbedienungsläden für (…) argumentationsbedürftige Auftraggeber.“
Was Ulrich Beck beschreibt, was wir in den letzten Monaten kontinuierlich verfolgen konnten: empirische Wissenschaften und hochrangige Wissenschaftler wurden durch die Medienöffentlichkeit regelrecht vorgeführt (Ebenda, S. 288):
„Praktiker und Politiker können (…) nicht nur zwischen Expertengruppen wählen, man kann sie auch innerhalb und zwischen Fächern gegeneinander ausspielen und auf diese Weise die Autonomie im Umgang mit Ergebnissen erhöhen.“
Wir konnten es beobachten: Suchten Vertreter der Politik „wissenschaftliche“ Begründungen für bestimmte Entscheidungen – etwa in Bezug auf die Öffnung von Kindertagesstätten oder Schulen -, griffen sie einfach auf den wissenschaftlichen Experten und seine Wissenschafts-Variante zurück, der ihnen rhetorisch entsprechend aufbereitet in den „Kram passte“.
Wissenschaftler als öffentliche Intellektuelle überschätzen den Wert akademischer Standards
Ein weitverbreitetes Problem öffentlicher Intellektueller insbesondere von Wissenschaftlern ist, dass sie die kommunikative Bedeutung ihrer Erkenntnisse fehleinschätzen.
Zu dieser Behauptung eine kurze Erläuterung aus dem Umfeld der aktuellen Pandemie: Schauen wir auf psychologischen Untersuchungen, über die wir kürzlich mit dem Rationalitätsforscher Keith Stanovich gesprochen haben. Es zeigt sich, dass die Infragestellung von Forschungsergebnissen zu COVID-19 wenig damit zu tun hat, dass Personen eventuell zu wenig Wissen haben. Es geht stattdessen um Bedürfnisse und darauf basierenden Emotionen dieser Personen, die eine entscheidende Rolle spielen.
Während Intellektuelle aus dem Lager der empirischen Wissenschaften die Bedeutung von wissenschaftlichen Tatsachen und Standards für den Ausgang von öffentlichen Diskussionen überschätzen, übersehen sie regelmäßig die stattdessen ausschlaggebenden Interessen und Werte von Personengruppen
Diese Problemkonstellation – Intellektuelle – Wissenschaftler – und Öffentlichkeit – ist von großem Interesse. Denn zum einen wird im Rahmen der längst noch nicht beherrschten Corona-Pandemie noch häufig empirisch-wissenschaftliches Wissen eine Rolle spielen. Angesichts eines Zukunfts-Szenarios mit sich steigernden Klimaveränderungen und deren ökologischen und sozialen Folgen wird der Wert akzeptierten wissenschaftlichen Wissens laufend zunehmen. Dabei werden wahrscheinlich regelmäßig Wissenschaftler als öffentliche Intellektuelle auf medialen Bühnen „vorgeführt“ werden.
Aus diesem Grund widmet sich dieser Beitrag im Detail den Hintergründen des Phänomens „Öffentliche Intellektuelle“. Zur Beleuchtung der Besonderheit des Auftretens dieser Spezie gehe ich im Folgenden das eine oder andere Mal auf die Beschreibung einer intellektuellen-Persönlichkeit ein, die ich dadurch „nebenbei“ ein wenig portraitiere. Und zwar greife ich auf Hintergrundinformationen über einen herausragenden Intellektuellen – den renommierten argentinischen, deutschstämmigen Physiker und Wissenschaftsphilosophen Mario Bunge zurück.
Mario Bunge hat im Rahmen seiner intellektuellen und wissenschaftlichen Karriere viel erreicht: Im Feld der Wissenschaftstheorie spielt er die Rolle eines wichtigen Vordenkers – so schrieb der deutsche Philosophie-Professor Bernulf Kanitscheider (Kanitscheider, 1984, S. VIII):
»Wenigen außerordentlichen Persönlichkeiten ist es vergönnt, die intellektuelle Geographie einer wissenschaftlichen Epoche entscheidend mitzugestalten. Mario Augusto Bunge gehört zu dem kleinen Kreis bedeutender Wissenschaftsphilosophen, deren Werke bereits jetzt zu Marksteinen in der geistigen Landschaft der Weltphilosophie geworden sind.«
Auf seinem Heimat-Kontinent Lateinamerika wird Mario Bunge heute als Vorbild geschätzt, weil er eine internationale Anerkennung erreichte, wie kein anderer südamerikanischer Philosoph vor ihm. Sein Werk wird heute als Beweis dafür betrachtet, dass auch Denker, die in einem Subkontinent arbeiten und schwierigsten Bedingungen ausgesetzt sind, aufsteigen können, um federführend an der internationalen Fachdiskussion auf höchstem Niveau teilzunehmen.
Soweit vorab zur Mario Bunges Positionierung.
Erforschung des „Public Intellectuals“ – erste Einordnung der „Spezie ‘Öffentliche Intellektuelle’“
In anglo-amerikanischen Gesellschaften beispielsweise ist die Diskussion des Stellenwertes öffentlicher Intellektueller und ihrer Bedeutung für die Medienlandschaft und die politische Diskussion eines Landes seit Jahrzehnten ein engagiert diskutiertes Thema unter akademischen Autoren (Etzioni & Bowditch 2006; Posner 2003). Zwischen diesen gibt es einen Fundus geteilter und akzeptierter Meinungen mit Blick auf die Schlüssel-Attribute sogenannter »Public Intellectuals« – PI’s – (siehe Etzioni 2006). PIs – public intellectuals – zeichnen sich demgemäß dadurch aus, dass sie ein weitgefasstes Themenspektrum behandeln, dass sie eher Generalisten als Spezialisten sind und dass sie dazu neigen, ihre Ansichten nicht für sich zu behalten. Besonders prädestiniert für das Spielen der »PI-Rolle« wären Personen, die weitgereist sind, über eine breitgefächerte Bildung verfügen und sich literarisch über »Myriaden« von Themen auslassen. Wobei sie über das Potenzial verfügen sollten, in wichtigen gesellschaftlichen Feldern für Resonanz zu sorgen. Dazu kommt, dass »öffentliche Intellektuelle« auf der Basis tiefschürfenden Wissens nicht nur über eine große Bandbreite an Themen hochkompetent sprechen können, sondern zum anderen Lösungen für ernste und für das Wohl und Wehe der Menschheit hochwichtige Angelegenheiten zu erdenken in der Lage sind (siehe Brower & Squires 2003).
Seine Autobiographie zeigt besonders eindrucksvoll, wie eindeutig Mario Bunge als Intellektueller die Kompetenz-Kriterien erfüllt, die für die Zuschreibung der PI-Eigenschaft vorausgesetzt werden:
»Weitgereist« ist er im wörtlichen Sinne, was bereits die Urlaubsberichte in seiner Autobiografie umfassend belegen (Bunge 2016). Im Rahmen seiner zahlreichen Gast-Professuren hat er jahrzehntelang auf beinahe allen Kontinenten gelehrt. Sein philosophisches Werk ist beispiellos angesichts Umfang, Bandbreite der behandelten Frage- und Problemstellungen und dabei vorbildlich durch Klarheit und Deutlichkeit der verwendeten Sprache sowie durch Produktivität und Kreativität seiner Argumentation. Das von ihm berücksichtigte Detailwissen überspannt den laufenden Forschungsstand eines ganzen Spektrums an Einzelwissenschaften wie Physik, Medizin, Hirnphysiologie, Psychologie, Soziologie, Politologie und Ökonomie. Er ist möglicherweise der einzige philosophische Autor, dem es bisher zutreffend gelungen ist, den Erkenntnissprung der modernen Physik – insbesondere den der Quantenmechanik und der beiden Relativitätstheorien – intellektuell und literarisch adäquat zu verarbeiten und als Prinzip einer umfassenden modernen aufgeklärten Philosophie auszuarbeiten. Dazu kommt, dass er als Denker und Autor immer wieder sein tiefschürfendes Wissen einsetzt und jenseits der Arbeit an seinen Forschungsschwerpunkten nutzt, um Lösungen für die großen aktuellen, die breite Öffentlichkeit bewegenden Probleme der Menschheit zu skizzieren.
Ein paar Beispiele:
In seinem kurzen Artikel »The Kaya Identity« rechnet Mario Bunge auf knapp drei Druckseiten in einer auch für Laien verständlichen Sprache das »kleine Einmaleins« der Verhinderung der weiteren Aufwärmung unserer Atmosphäre und des Eindämmens des Klimawandels vor (Bunge 2012a). Bei dieser Gelegenheit enthüllt er außerdem, wie der sogenannte »internationale Klimarat« – IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) – durch den nachlässigen Einsatz mathematischer Formalisierungen die zielführende Diskussion der Ursachen der Klimaerwärmung unnötig erschwert.
An anderer Stelle beschäftigt er sich ebenso gut verständlich mit der Finanzkrise in den Jahren 2007 und 2008 sowie mit dem dadurch ausgelösten jahrelangen Rückgang der internationalen Wirtschaftstätigkeit (Bunge 2012b). Er liefert überzeugende Argumente dafür, dass hinter diesen Problemen unter anderem die im Westen dominierende, auf theoretischen Irrwegen befindliche Volkswirtschaftslehre steckt, auf deren Basis Wirtschaftskrisen weder vorherzusehen, noch zu handhaben sind. Stattdessen kann seiner Meinung nach sogar gesagt werden, dass ihr Einfluss auf die internationale Wirtschaftspolitik die Krise überhaupt erst hervorgerufen hat.
Auch bei politischen Themen hält sich Mario Bunge nicht zurück und kann aufgrund seines umfassenden historischen Wissens für ein allgemein interessiertes Publikum erhellende Zusammenhänge herstellen: Bei einem Interview (Droste 2014, Droste 2015, S. 177), auf den vermeintlichen kulturellen und religiösen Konflikt zwischen der arabischen und der westlichen Welt angesprochen, argumentiert er, dass es hier um materielle und politische Interessen statt um weltanschauliche Differenzen geht. Zur Erläuterung fasst er in einem Atemzug Fakten aus dem europäischen Mittelalter, aus der Geschichte Frankreichs zu Kardinal Richelieus Zeiten sowie aus der Geschichte des Iran im 20. Jahrhundert zu einem verblüffenden Argument zusammen.
An dieser Stelle sei als Zwischenergebnis der ersten Überlegungen festgehalten: Mario Bunge verfügt deutlich über die Kompetenz, die von einem öffentlichen Intellektuellen zu erwarten ist.
Im nächsten Schritt stellt sich die Frage, ob sein umfassendes Werk tatsächlich zu dem Profil eines PI’s passt: Ist Bunges Denken tauglich, zu einer »öffentlichen Philosophie« gemacht zu werden und ihn als Intellektuellen und als »öffentlichen Philosophen« zu profilieren?
„Öffentliche“ Philosophien tendieren dazu, öffentliche Legenden zu werden.
Im Rahmen der vorliegenden Überlegungen, habe ich Mario Bunge direkt mit dem Thema konfrontiert. Es zeigte sich, dass er sich in der Vergangenheit mit der Vorstellung, ein öffentlicher Intellektueller zu sein, explizit kaum auseinandergesetzt hat und dass er das Konzept dahinter für ambivalent hält. Er antwortete ausweichend, »er wolle zwar als Intellektueller gehört werden, doch er möchte nie als ›großer‹ oder ›einflussreicher‹ PI erscheinen«.
Greifen wir den Hinweis auf die Ambivalenz des Konzepts des »public intellectual« auf und fragen, ob Publizität und Philosophie »kompatibel« sind. Offenbar ist dies nicht der Fall. Denn die Publizität eines philosophischen Werks bringt Diskussions-Prozesse in Gang, die aus der Sicht des Urhebers einer Philosophie kritisch zu betrachten sind:
Ein breites Publikum verbindet mit einer »bekannten« Philosophie die Vorstellung von einem »konsumierbaren« Kulturgut, das die Funktion hat, nachvollziehbar ein Weltbild und einen »originellen« Deutungsansatz zur Betrachtung der menschlichen Existenz zu liefern. Für die Nachvollziehbarkeit der jeweiligen öffentlich beachteten Philosophie ist wesentlich, dass das dahintersteckende Denk-Konzept sich in die verbreiteten Denk-Traditionen der betroffenen Bevölkerungsgruppe einfügt und in diesem Rahmen – »Frame« – Sinn ergibt.
Der Sinn kann darin bestehen, dass die betreffende Philosophie Antworten zu vertrauten Lebensfragen gibt und in die Lage versetzt, Erklärungen für existentielle Fragen – etwa nach dem Ursprung des menschlichen Lebens, nach ethischen Begründungen umstrittenen Verhaltens usw. – zu geben und alternative Haltungen gegenüber verbreiteten Lebenskonzepten entwerfen hilft.
Wird die Funktionsweise einer speziellen Philosophie als Sinnvermittlungs-Ressource betrachtet, zeigt sich mehr oder weniger deutlich, dass es keineswegs werkgetreue Konzepte aus den Original-Werken sind, die in der Diskussion des Publikums eine Rolle spielen. Stattdessen werden die Namen von Philosophien und Namen von deren Urhebern sowie ausgewählte Begriffe aus dem jeweiligen Werk herausgegriffen und umfassend mit mehr oder weniger werkfremden Vorstellungen und Ideen in Verbindung gebracht. Öffentliche philosophische Kulturgüter sind Bildungs-Inhalte, die Individuen als argumentative Schablonen – als „mindware“ – dienen, als Träger für eigene Gedanken oder auch als abstrakte Ausdrucksmittel für eigene Emotionen oder als argumentative Ressourcen, deren Überzeugungskraft für eigene Gedankengänge »ausgeliehen« werden.
Ein anschauliches und gut belegtes Beispiel sind die Transformationen, die Immanuel Kants Werk – dabei insbesondere seine Kritik der reinen Vernunft – im Rahmen ihrer Publizität erfahren hat (Kant A: 1781/B: 1787/1976). Für die breite Öffentlichkeit werden seit langem aus dem verwinkelten Konzept der Vernunftkritik simple Botschaften abgeleitet. getAbstract beispielsweise ist ein Online-gestützter Dienst, der Bücher populär und publik macht, indem er zu Fachbüchern nach einem einheitlichen Raster Abstracts veröffentlicht. Auch an Kants Werk hat sich getAbstract versucht – hier findet sich eine Zusammenfassung der Kritik der reinen Vernunft, die mit einer Auswahl öffentlich verbreiteter Interpretationen von Kants Argumentation arbeitet (getAbstract 2004). Im betreffenden Abstract wird u.a. behauptet »Immanuel Kant hat mit der Kritik der reinen Vernunft eine Revolution ausgelöst. (…) Der Königsberger Philosoph untersucht die Grundlagen unserer Erkenntnisfähigkeit und kommt zum Schluss, dass diese begrenzt ist.«
Immanuel Kant – Wikimedia Commons
Da Kant die meiste Zeit seines Lebens in Königsberg gelebt hat, ist es tatsächlich vertretbar, ihn als »Königsberger« Philosoph zu bezeichnen. Der Rest der Deutung von getAbstract – Kant wäre der Vordenker eines konstruktivistischen Skeptizismus sowie ein Erkenntnis-Bezweifler gewesen – hat mit den Intentionen Kants wenig zu tun. Ihm ging es stattdessen darum, auf der Basis seiner drei Kritiken die aus seiner Sicht für die menschliche Ethik unverzichtbaren Ideen wie »Freiheit des Menschen«, »Dasein Gottes« usw. als unantastbare Vernunft-Instanzen zu definieren (Entsprechend bringt Kant die Intention der Kritik der reinen Vernunft in einem Brief an Christian Garve vom 21.9.1798 auf den Punkt. – (Kant 1972 S. 778). Kant ging es in der Vernunftkritik vor allem um die zweifelsfreie Absicherung von Vernunft-Einsichten, nicht um die Begründung von Zweifeln an unserer Erkenntnisfähigkeit.
Eine weitere weitverbreitete »folkloristische« Deutung der Kritik der reinen Vernunft geht in eine vollständig andere Richtung. So ist es populär, zu behaupten, Kants Absicht wäre es in der Vernunftkritik gewesen, durch das berühmte Konzept »synthetischer Sätze a priori« naturwissenschaftliche Empirie und empirische Gesetze zu rechtfertigen und deren Geltung zu sichern. Geschulte Kant-Rezipienten weisen regelmäßig darauf hin, dass es sich hierbei um eine vollständige Fehlinterpretation der Kritik handelt (Hoppe 1969, S. 7; Droste 1985 S. 14). Kant hatte stattdessen versucht, ein Modell unseres »Erkenntnis-Apparates« zu entwerfen und damit die allgemeinsten »Bedingungen möglicher Erfahrungen« zu diskutieren. Die Deutung, Kant hätte in der Kritik einen Weg gesucht und gefunden, emprirische Gesetzmäßigkeiten zu begründen, ist definitv falsch.
Auch der Soziologe Talcott Parsons ist der »Popularität« der Kritik der reinen Vernunft erlegen: »Whatever other philosophical postions may be possible, I have explicitly taken one in the Kantian tradition.« (Parsons 1978, S. 5). Er greift auf die Vernunftkritik zurück, um seine Vorstellung von der Semantik theoretischer Begriffe sowie sein Konzept des »wissenschaftlichen Tatbestands« zu erläutern (Parsons 1978a, S. 1357; Parsons & Schütz S. 127). Parsons spricht in diesem Zusammenhang von einem »epistemologischen Problem, das es zu lösen gilt »(…) the epistemological problem, that of the status of scientific concepts in relation to reality.« (Parsons, 1937/1968, S. 6). Er behauptet, durch den Einsatz theoretischer Konzepte würden aus vorwissenschaftlichen »Phänomenen an sich« wissenschaftliche Tatbestände – »facts« -, wie bei Kant aus Sinnesdaten durch Kategorien Erfahrungsgegenstände würden. Genau betrachtet erschöpft sich Parsons‹ »epistemologischer Klärungsansatz« darin, dass er die Hypothese formuliert, der Einsatz allgemeiner und definierter theoretischer Begriffe bei der Betrachtung der sozialen Welt hätte Vorteile gegenüber der Verwendung von Alltagssprache. Mittels des Rückgriffs auf Kant bemüht sich Parsons erfolglos, diesem schlichten wissenschaftstheoretischen Gedanken Tiefe und Überzeugungskraft zu verleihen. Kants Begrifflichkeit von »Dinge an sich« und »Erfahrungsgegenstände« in der Vernunftkritik hat demgegenüber nichts mit dem Thema der Begründung theoretischer Begriffe zu tun, auf die es Parsons angekommen ist (Droste 1985, S. 86).
Typisch für »öffentliche Philosophien« ist, dass Individuen in ihnen Ansätze für Lebenshilfe suchen.
Ein aktuelles Dokument, an dem ablesbar wird, wie das konkret funktioniert, ist die kurz vor dessen Tod erschienene Autobiografie des ehemaligen Kanzlers und Regierungschefs der Bundesrepublik Deutschland Helmut Schmidt, dem im Lauf seines Lebens wegen seiner politischen Verdienste unter anderem 24 Ehrendoktorwürden beispielsweise der Universitäten von Oxford, von Cambridge, der Sorbonne oder der Harvard University und von der Johns Hopkins University verliehen wurden.
Helmut Schmidt, Ronald Reagan (Wikimedia Commons)
Der spätere Kanzler der Bundesrepublik war als junger Mann während des Dritten Reichs frühzeitig zum Wehrdienst verpflichtet und teilweise zur Ostfront kommandiert gewesen – eine Erfahrung, die er bis zum Lebensende als belastend empfand. Im Jahr 1980 lernte er Karl Popper persönlich kennen, dessen »Die Feinde der offenen Gesellschaft« er gelesen hatte, und mit dem er bis zu dessen Tod im Jahr 1994 befreundet war. Schmidt beschreibt in seiner Autobiografie, dass er sich nach dem Krieg der Philosophie Kants zuwandte, um sich insbesondere in Situationen der politischen Unsicherheit neu auszurichten: »In dem moralischen Chaos, das die Nazis hinterlassen hatten, wurde mir Kant zu einem verlässlichen Kompass.« (Schmidt 2015) Kants Philosophie war seine Lebenshilfe, indem er – wie Schmidt es beschreibt – einige »Kantische« Aussagen in seinem Bewusstsein verankerte. So orientierte er sich an dem Satz: »Moralisches Handeln muss auf Vernunft gegründet sein.«, ohne dabei für sich in Anspruch zu nehmen, diese – recht allgemeine – Aussage selbständig aus Kants Werk ableiten zu können. Schmidt schätzte diesen Gedanken, weil er ihm nach eigener Einschätzung half, in bewegten Entscheidungs-Situationen innezuhalten und zu überlegten Handlungslösung zu kommen.
Helmut Schmidts Wohnzimmer (Wikimedia Commons)
Diese Beispiele zeigen, wie die »Rezeption« eines philosophischen Werks und ihre Verwandlung in eine »öffentliche Philosophie« genutzt wird, um unterschiedlichste Dinge zu tun. Wie gesehen, wurde Kants Vernunftkritik genutzt, um die »trendige« Skepsis in Bezug auf die vermeintliche Allmacht wissenschaftlichen Wissens zum Ausdruck zu bringen. Genauso wird mehr oder weniger das genaue Gegenteil bezweckt, wenn behauptet wird, die Vernunftkritik untermauere die Gewissheit empirisch-wissenschaftlicher Gesetze. Theoretiker wie Talcott Parsons greifen auf Kants Kritik zurück, weil sie auf diesem Weg die Qualität ihrer abstrakten Konzepte zu belegen suchen. Und Individuen glauben, bei Kant moralische Regeln zu erkennen, die ihnen als eine Art Verhaltens-Kompass dienen können. Deutlich ist, dass kaum jemand, der aus Kants »öffentlicher Philosophie« in der einen oder anderen Richtung Nutzen zieht, jemals selbst in der betreffenden Kritik gelesen hat.
Um die Vernunftkritik herum hat sich offenbar eine »öffentliche Legende« gebildet, die mit dem Inhalt des Originalwerks wenig gemein hat. Das Schicksal dieser Form der Idealisierung teilen mit großer Wahrscheinlichkeit alle philosophischen Werke, die öffentliche Aufmerksamkeit erlangen.
Philosophieren funktioniert nicht öffentlich – die werkgetreue Vermittlung wesentlicher und fachlicher Details ist in der Öffentlichkeit angesichts der dafür erforderlichen hohen Expertise unmöglich. Was im günstigsten Fall von einem öffentlich gemachten philosophischen Werk übrigbleibt, ist ein gewisser positiver Eindruck, der bei Individuen ausgelöst wird und der sie motivieren kann, sich irgendwann einmal ernsthaft mit einem philosophischen Werk auseinanderzusetzen. Ihr Detailstudium des Werks könnte ihnen eröffnen, was der jeweilige Autor tatsächlich geschrieben hat.
Der jeweilige Student wird dabei voraussichtlich Überraschungen erleben, auf die ihn die werkferne öffentliche Diskussion der jeweiligen Philosophie nicht vorbereiten konnte. – Beispielsweise auf die im Jahr 1802 erschienene »Physische Geographie« von Immanuel Kant, in der dieser im zweiten Teil, 1. Absatz unter Paragraph 3 eine auf der menschlichen Hautfarbe gegründete Rassenhierarchie definiert:
»Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringes Talent. Die Neger sind weit tiefer und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften.« (Kant 1802, erste Abteilung, § 4).
Immanuel Kant war laut Nina Jablonski – Anthropologin und Paläobiologin an der Pennsylana State University – der erste Autor, der die geographischen Gruppierungen von Menschen als »Rassen« bezeichnete und definierte (Jablonski 2015, pp.80-1). Er differenzierte wie in dem Zitat angedeutet vier Rassen, die durch Hautfarbe, Beschaffenheit der Haare, Schädelform aufgrund weiterer anatomischer Merkmale charakterisiert sind und sich insbesondere durch ihre Fähigkeit zur Moral und zur Vernunfteinsicht unterscheiden. Was er in seiner Vernunftkritik als moralische Qualität definierte hat aus seiner Sicht uneingeschränkt nur für die »europäische Rasse« Geltung, während ihm die restliche Menschheit als defizitär erschien. Kants Werk kann so gesehen eher als Argumentations-Leitfaden für Rassen-Ideologien dienen – aber kaum widerspruchlos als der »moralische Kompass« gelten, den Helmut Schmidt in diesem vermutet hatte.
Hegel-Portrait von Schlesinger (1831 – Wikimedia Commons)
Wie er einen entscheidenden »Überraschungseffekt« persönlich erlebte, beschreibt Mario Bunge als Anekdote in einer autobiografischen Notiz (Bunge 2010, p.526). In seinem Fall war es Hegels Philosophie, dessen »Nimbus« ihn zunächst anzog, und dessen Lektüre in französischer Übersetzung zu einem starken Frustrationserlebnis führte: »Da schluckte ich mehr, als ich verdauen konnte.« Eine Erfahrung, die Mario Bunge dazu brachte, »öffentliche Philosophie« zunächst mit Skepsis zu betrachten und jeweils zu prüfen, ob deren öffentliche Wirkung möglicherweise lediglich auf der philosophischen Scharlatanerie des betreffenden »öffentlichen Intellektuellen« basiert. Für besonders »beispielhaft« hält er in diesem Zusammenhang jeweils die philosophischen Konzepte hinter dem genetischen Determinismus Dawkins‘ und hinter dem Nativismus Chomskys. Das deutet zumindest die Häufigkeit an, in der er auf deren angebliche Kritikwürdigkeit verweist.
Aus dieser Perspektive heraus betrachtet, scheint Mario Bunge sein eigenes Werk als Gegenentwurf zu einer typischen »öffentlichen Philosophie« konzipiert zu haben, indem er dafür ein strenges Bewertungskriterium definierte: »Philosophien sind nach der Art und Weise zu beurteilen, in der sie uns helfen, die Welt zu erkunden und darin zu handeln.« (Bunge 2012, p.XIV).
Statt nach Chancen öffentlicher Wirkung zu streben, orientiert sich Mario Bunge bei seinem Philosophie-Entwurf am Wissens-Ideal empirischer Wissenschaften: Er weist darauf hin, dass es hier anerkannte Bewertungs-Kriterien gibt, die sich kompakt zusammenfassen lassen – Klarheit der verwendeten Konzepte; inhaltliche Konsistenz; Bewährtheit angesichts der relevanten empirischen Fakten; Übereinstimmung mit der Masse des bereits vorliegenden bestätigten Wissens; Umfang der berücksichtigten Fragestellungen; das Potential, Lösungen für diese Fragen zu finden sowie die Fähigkeit, zukünftige Forschungsprojekte anzuleiten.
Deshalb kritisiert er die üblichen philosophischen Ansätze, deren Urheber sich seiner Ansicht nach nicht bemühen, allgemeine Beurteilungskriterien zu entwickeln und diesen mit ihren Veröffentlichungen zu entsprechen. Aus seiner Sicht werden in der öffentlichen Diskussion Philosophien positiv beurteilt oder verworfen, ohne dass klare oder objektive Kriterien dafür angelegt werden – stattdessen kommen hierbei oft Intuition, Nützlichkeits-Erwägungen oder Gefühle zum Tragen. Gemäß Bunge ein unbefriedigender Zustand. Deshalb formuliert er einen Leitsatz, anhand dessen wir philosophische Doktrinen bewerten sollten: Eine Philosophie ist wertvoll, wenn sie uns hilft, zu lernen, zu handeln, unser wertvolles kulturelles Erbe zu erhalten, und wenn sie uns anleitet, unser Zusammenleben mit unseren Mitmenschen zu fördern.
Um diesem Fruchtbarkeits-Kriterium zu entsprechen, hat Mario Bunge im Rahmen des viele Jahrzehnte erfordernden Aufbaus seiner Philosophie als eine integrierte »Wahrheitstechnologie« konzipiert, die einen kompletten Set mit Teil-Technologien umfasst wie Ontologie, Erkenntnistheorie, Methodologie, Praxeologie, Wertetheorie und Ethik sowie politische Philosophie.
Öffentliche Intellektuelle sorgen für Skandale
Zwischenergebnis an dieser Stelle ist, dass Philosophen und ihr Werk tatsächlich in gewisser Weise »öffentlich« werden können. Philosophien scheinen dabei eine wesentliche Voraussetzung erfüllen zu müssen, um tatsächlich wirkungsvoll öffentlich zu funktionieren: Erfolgreiche öffentliche Philosophien sollten angesichts mangelnder Fachkenntnisse des Publikums flexibel in ihrer Ausdeutbarkeit und in der Nutzbarkeit für unterschiedlichste Sinngebungs-Aktivitäten sein. Mario Bunges philosophischer Ansatz einer Wahrheitstechnologie zur Unterstützung von wissenschaftlicher Arbeit scheint auf den ersten Blick mit diesem Hintergrund nicht kompatibel zu sein.
Es stellt sich die Frage, wie es dazu kommt, dass es gewissen philosophischen Werken tatsächlich gelingt, die für eine breite Öffentlichkeits-Wirkung vorauszusetzende Ausdeutbarkeit und Nutzbarkeit zu erreichen, um als »Kulturgut« bekannt zu werden und ihrem Urheber das Potential eines »öffentlichen Intellektuellen« zu verleihen. Wie kommt es dazu, dass es anderen philosophischen Werken nicht gelingt?
Einen wichtigen Hinweis für die vorliegenden Überlegungen ergab in diesem Zusammenhang ein Interview mit dem deutsch-kanadischen Politologie- und Soziologie-Professor Andreas Pickel, der in der Vergangenheit zwei Symposien zur Diskussion der Sozialphilosophie Mario Bunges organisiert hatte (Pickel 2004). Pickel stand darüber hinaus mit dem Philosophen über Jahre hinweg in regelmäßigem Gedankenaustausch.
Anlässlich des 22. European Meeting on Cybernetics and System Reseach, auf dem Mario Bunge am 22. April 2014 in Wien der sogenannte »Bertalanffy Award in Complexity Thinking« verliehen wurde, befragte ich ihn zum Thema Bekanntheit der Bungeschen Philosophie in der Fachwelt (Droste 2014a). Pickels Einschätzung war, dass Mario Bunges Philosophie bisher nicht die Bekanntheit erreichen konnte, die dieser angesichts ihres Umfangs und ihrer Relevanz für eine Vielzahl von Wissenschaften zukommt. Als Ursache sieht er den Umstand, dass der argentinische Autor sich nicht darum gekümmert hat, seine Anhängerschaft zu organisieren und eine eigene »Philosophie-Schule« zu begründen. Aus Pickels Beobachtung akademischer Kreise wäre dies beispielsweise im Fall der Anhänger Karl R. Poppers gelungen, die so etwas wie einen handlungsfähigen Kreis von Popperianern begründet hätten.
Greifen wir diesen Hinweis auf: Tatsächlich hat Popper im Laufe von öffentlichen Diskussionen tatkräftige Unterstützung durch Anhänger erhalten. Beispielsweise im Umfeld des sogenannten »Positivismusstreits« in den 1960er Jahren im deutschen Sprachraum, bei dem es um eine Kontroverse über Methoden und Werturteile in den Sozialwissenschaften ging. Gestartet wurde die Diskussion durch einen Beitrag von Popper auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Oktober des Jahres 1961 in Tübingen. In der Folge der auch öffentlich über Fachmedien und überregionalen Zeitungen ausgetragenen Debatte trat insbesondere Jürgen Habermas als Vertreter der Frankfurter Schule auf, um die Position von Poppers kritischen Rationalismus zu attackieren. Popper zeigte allerdings kein Interesse, sich öffentlich auf die Beiträge Habermas‹ einzulassen und darauf öffentlich zu reagieren.
Sir Karl Raimund Popper (Wikimedia Commons)
Popper wurde darauf angesprochen, warum er sich der Diskussion zu entziehen schien (Grossner 1971). Seine Antwort war, er würde lieber daran arbeiten, seine eigenen Ideen möglichst einfach zu formulieren, statt sich auf Habermas‹ grausames Spiel einzulassen, »in anmaßendem Ton … Einfaches kompliziert und Triviales schwierig auszudrücken« (Grossner 1971, S. 289). Für die öffentliche Auseinandersetzung übernahm es statt Poppers ein Vertreter aus dem Kreis des kritischen Rationalismus‹ Poppers gegen den aus dem Bergischen Land stammenden Autoren auftreten: Der Soziologe und Philosoph Hans Albert bekam die Rolle des öffentlichen Verteidigers. Albert übernahm es in den folgenden Jahrzehnten stellvertretend, die Diskussion rund um den Positivismusstreit fortzuführen und den Hermeneutik-Ansatz Habermas‹ sowie dessen Nähe zur christlich-religiösen Dogmatik detailreich zu kritisieren (Albert 1994, S. 230-62; Albert 2008, S. 92).
Hans Albert (Wikimedia Commons)
Demgegenüber verfügte Mario Bunge nicht über so etwas wie eine Popperianische »Eingreiftruppe« für Konfliktfälle. Zudem ist zweifelhaft, dass er eine solche Form von Stellvertreterschaft akzeptiert hätte. Er schätzte es stattdessen, seine philosophischen Meinungsverschiedenheiten ebenso persönlich wie schonungslos auszutragen. »Er macht keine Gefangenen« hat das Andreas Pickel genannt.
Wie wenig Rücksicht Mario Bunge dabei auf Popularität seiner öffentlichen Diskussionsbeiträge genommen hat, lässt sich an einem Fall aus dem Jahr 1978 betrachten, als er am 16. Weltphilosophenkongress vom 27.8. bis zum 2.9. in Düsseldorf teilnahm. Mitten im Vortrag des australischen Hirnforschers Sir John Carew Eccles stand Bunge auf, um dessen Konzept der vermeintlichen Interaktion zwischen materieller Hirn-Substanz und immateriellem Bewusstsein scharf zu kritisieren (Bunge 2012, S. 22; Droste 2014).
Die Artikel der täglich während des Kongresses berichtenden Tageszeitungs-Journalisten belegen die Irritation, die bei den Teilnehmern der Veranstaltung im Messe-Kongress-Zentrum Düsseldorfs bewirkt wurde (Quelle: Zeitungsarchiv der Stadt Düsseldorf – Stadtarchiv Düsseldorf, Worringer Strasse 140, 40200 Düsseldorf). Hier war am nächsten Tag zu lesen, dass der Vortrag eines Nobelpreisträgers des Jahres 1963, der vor einem Jahr gemeinsam mit dem international bekannten Philosophen Sir Karl R. Popper den Bestseller »The Self and its Brain« geschrieben hatte, mit unangenehm schriller Stimme von einem Mann unterbrochen wurde, der auf diese Weise den geordneten Ablauf des Tages störte. Was der Hintergrund dieses Störers, welche wissenschaftlich begründeten Argumente er in diesem Augenblick vorbrachte und wie wenig überzeugend demgegenüber der in Eccles Vortag vorgebrachte Leib-Seele-Dualismus ist, wurde den Lesern der Düsseldorfer Zeitung nicht erläutert. Die anwesenden Redakteure konzentrierten sich auf den Tatbestand einer skandalösen Störung eines renommierten, prominenten und verdienstvollen Wissenschaftlers.
Dieser Düsseldorfer »Eccels-Skandal« zeigt, wie wenig die wissenschaftliche und philosophische Begründung von Thesen allein zu deren öffentlicher Bekanntheit beiträgt und Intellektuellen dabei hilft, das Image eines »öffentlichen Philosophen« zu erreichen. Diese Formen der Bekanntheit sind in gewissem Maß von einem gezielten Gestalten öffentlicher Meinungen abhängig, wie diese heute routinemäßig nicht nur von Journalisten in Massenmedien, sondern auch im Feld der sogenannten Public Relations eingesetzt werden.
Dabei ist es eine wichtige Erfahrung professioneller Publizitäts-Experten in Verlagen und in Kommunikations-Agenturen, dass die Nutzung von Skandalen das Erreichen von Öffentlichkeit von Personen und Themen nicht behindert, sondern stattdessen besonders wirkungsvoll unterstützt. Allerdings hat Bunge die Chance, seinen Skandal in Düsseldorf mediengerecht aufzubereiten nicht genutzt.
Jürgen Habermas (Wikimedia Commons)
Wie so etwas erfolgreich praktiziert wird, das hat unter den international erfolgreichen »öffentlichen Philosophen« besonders anschaulich der bereits erwähnte Vertreter der Frankfurter Schule, Jürgen Habermas, vorgeführt. Habermas ist es gelungen, sich in der internationalen Öffentlichkeit als Intellektueller einen Namen zu machen und beispielsweise in der hundert Personen umfassenden Rangliste bedeutender »Public Intellectuals« der englischsprachigen Medien Foreign Policy und Prospect Magazine bei einer Abstimmung im Jahr 2005 einen beachtlichen siebten Platz direkt hinter dem Ökonomen Paul Krugman zu erreichen. Er ist damit in dieser Liste der höchstnotierte »Philosoph«. Den ersten Platz erreicht der von Mario Bunge wegen seines linguistischen Konzepts scharf kritisierte Noam Chomsky, während er selbst in dieser Rangliste überhaupt keine Erwähnung findet.
Wie konnte Jürgen Habermas diesen Status erreichen, obwohl er beispielsweise gemäß der Maßstäbe, die Mario Bunge an Philosophien anlegt, wenig geleistet hat?
»Der einzige heute außerhalb Deutschlands bekannte deutsche Philosoph ist Jürgen Habermas. Meiner Meinung nach schreibt er oberflächlich und langatmig. Ihm ist es gelungen, allen wichtigen, von der zeitgenössischen Wissenschaft aufgeworfenen Fragen auszuweichen, insbesondere denen der Atomphysik, der Evolutionsbiologie, der biologischen Psychologie und der Sozioökonomie. Sein Versuch, Hegel, Marx und Freud zu verschmelzen, hat kein kohärentes System erbracht, und stellt keinen empirischen Forschungsansatz dar. Darüber hinaus verrät sein Vermischen der Konzepte von Wissenschaft, Technologie und Ideologie, dass er von diesen drei Feldern keine Ahnung hat.« (Quelle Bunge-Interview – Droste 2015, S. 182)
Jürgen Habermas hat es beispielhaft verstanden, seine Bekanntheits-Karriere vor allem systematisch auf der Basis von öffentlich ausgetragenen Skandalen aufzubauen. Einige seiner wichtigen Stationen auf dem Weg zum international erfolgreichen »öffentlichen Philosophen«:
Nach dem Studium startete er seine berufliche Karriere als Redakteur der in Frankfurt am Main erscheinenden, weitverbreiteten überregionalen Tageszeitung Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), wodurch er in der Lage war, am 25. Juli 1953 einen ganzseitigen Artikel zu veröffentlichen, in dem er Martin Heidegger und dessen Unbelehrbarkeit in Bezug auf die Verbrechen der Nazis skandalisierte. Obwohl Habermas selbst durch Heideggers Philosophie geprägt ist und beispielsweise während seines Studiums durch enge Heidegger-Mitarbeiter, die nach dem Krieg zunächst mit Lehrverbot belegt waren, geschult wurde und er Heidegger Jahrzehnte später öffentlich auch wieder als großen Denker lobt und vor vermeintlich unfairer »Diskreditierung« schützen zu müssen glaubt (Habermas 1989), gelang ihm mit der Skandalisierung des Existenzphilosophen und langjährigen Mitglieds der NSDAP ein wichtiger Schritt in Richtung öffentlicher Aufmerksamkeit. Das hatte im Jahr 1953 einigen Mut erfordert, denn Heidegger war trotz seiner Verstrickung unter anderem in die Hochschulpolitik der Nationalsozialisten in der Nachkriegszeit selbst enorm bekannt und populär: So beobachtete der deutsch-amerikanische Philosoph Walter Arnold Kaufmann zu dieser Zeit, dass Heideggers Vorlesungen so gut besucht waren, dass diese mittels Lautsprecheranlagen in mehrere Säle übertragen werden mussten, um das öffentliche Interesse an seiner Person und seinem Werk zu befriedigen (Kaufmann 1957).
»Skandalisierungen sind umso wirkungsvoller als Instrument, Bekanntheit und Aufmerksamkeit zu erreichen, je bekannter die skandalisierte Person ist« – das ist eine Einsicht, die in Zeitungsredaktionen regelmäßig genutzt wird, um für wirtschaftlichen Erfolg ihrer Blätter zu sorgen. Um mit dem Mittel des Skandals arbeiten zu können, investieren Verlage und Publizisten beispielsweise in sogenannten »investigativen Journalismus« insbesondere rund um die Verfehlungen prominenter Persönlichkeiten. Als Habermas den prominenten Heidegger skandalisierte, nutzte er so gesehen eine bewährte journalistische Praktik. – Eine weitere wichtige Skandalisierung gelang Jürgen Habermas dann im Rahmen des erwähnten Positivismusstreits ab dem Jahr 1961 mit der Stigmatisierung des kritischen Rationalismus Karl R. Poppers als »positivistische« Philosophie.
Der Raum fehlt hier sämtliche Fälle Habermasscher Skandalisierungskampagnen vorzuführen. Eine weiterer Fall aus der jüngeren Vergangenheit soll dennoch skizziert werden, da er besonders aufschlussreich und in Details gut dokumentiert ist: Der prominente Bestseller-Autor Peter Sloterdijk hatte im Juli 1999 auf einem philosophischen Symposium den Vortrag »Regeln für den Menschenpark« gehalten. Habermas nahm das zum Anlass, Sloterdijks Position zum Thema Eugenik zu skandalisieren und sich selbst in der Öffentlichkeit zu profilieren. Der Autor Sloterdijk beklagte sich daraufhin über das taktische Vorgehen Habermas‹: Dieser habe ein Netzwerk von Schülern in einflussreichen Zeitungen angewiesen, öffentlich Sloterdijks Argumentation überspitzt darzustellen und künstliche Aufregung zu provozieren, um Habermas selbst auf unfaire Weise eine Plattform und Öffentlichkeit für seinen eigenen Beitrag zur Eugenik-Debatte zu verschaffen (Wikipedia 2010).
Dass die allgemeine Aufmerksamkeit einer Philosophie und die Bekanntheit eines Philosophen durch journalistische Kampagnen und durch skandalträchtige thematische Aufhänger erreicht wird, könnte als bizzares Randphänomen in der Philosophie-Geschichte gedeutet werden. Doch es ist ein Geschehen, dass Philosophie bereits seit Jahrhunderten begleitet. Das zeigt beispielsweise eine Analyse der Geschichte der Rezeption wiederum der einflussreichen Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant, die im Jahr 1781 in der ersten Auflage erschienen war:
Die schwer verständliche Vernunftkritik wurde selbst unter philosophischen Experten kaum gelesen. So schrieb der Aufklärer Moses Mendelssohn, von dessen Urteil sich der Königsberger Philosoph vielversprochen hatte, am 10. April 1783 in einem Brief an Kant:
»Meine Nervenschwäche verbietet mir alle Anstrengung … Ihre Kritik der reinen Vernunft ist für mich auch ein Kriterium der Gesundheit. So oft ich mich schmeichele an Kräften zugenommen zu haben, wage ich mich an dieses Nervensaft verzehrende Werk, und bin nicht ganz ohne Hoffnung, es in diesem Leben noch ganz durchdenken zu können.« (Kant, 1972, S. 212-3)
Grabstäte des Aufklärers Moses Mendelssohn, der es am Ende doch nicht schaffte, Kants Kritik zu lesen (Wikimedia Commons)
Die selbst für wohlwollende Fachleute »Nervensaft verzehend« erscheinende Kritik war in der breiten Öffentlichkeit vollständig unbeachtet geblieben. Das änderte sich erst, als Kants Buch im damaligen sogenannten »Pantheismusstreit« von dem aus Wien stammenden Ex-Jesuiten Karl Leonard Reinhold aus Eigeninteresse als publizistisches Werkzeug eingesetzt wurde. Reinhold gehörte zu den Illuminaten, einem Zirkel von Intellektuellen, die sich mit der Diskussion der Ideen der Aufklärung auseinandersetzten. Insbesondere ging es Ihnen darum, die aus ihrer Sicht »skandalösen« Schlussfolgerungen aus dem damals leidenschaftlich diskutierten Spinozismus und Materialismus zu bannen. Um eine überzeugende Gegenposition zum daraus abgeleiteten Atheismus zu propagieren, schrieb Reinhold in der in Weimar erscheinenden Literaturzeitschrift Der Teutsche Merkur eine Folge von Artikeln »Briefe über die Kantische Philosophie«. Diese Briefe vereinfachten den Inhalt der Kritik stark und deuteten sie in eine Vernunftbegründung christlicher Dogmen und christlicher Ethik um. Erst mit diesen Briefen und auf der Basis einiger anderer publizistischer Interventionen konnten Reinhold und andere Publizisten die Grundlage für Kants Karriere-Durchbruch legen und den Einfluss seiner Kritiken auf die folgenden Philosophen etwa des Idealismus begründen (Israel 2012, S. 721-40).
Auf der Suche nach dem Applaus der wissenschaftlichen Gemeinschaft
Andreas Pickel hat wie gesehen darauf hingewiesen, dass Mario Bunge zu wenig im Feld des öffentlichen Ruhms erreicht und machte das daran fest, dass dieser keine Philosophen-Schule aufgebaut hat. Mario Bunges Konzept öffentlicher Anerkennung scheint einem deutlich anderen Konzept von Bekanntkeit zu folgen, als dem, das bei den publizistischen Interventionen in den Fällen der »öffentlichen Philosophen« Habermas und Kant eine Rolle spielen. Zudem zeigt das Beispiel des Düsseldorfer »Eccles-Skandals«, dass er anders als beispielsweise Jürgen Habermas PR-Effekte seiner Aktivitäten nicht ins Kalkül zu ziehen schien.
Mario Bunge plante seine Bekanntheit nicht nach Maßgabe einer journalistischen Kommunikations-Kampagne, sondern favorisierte mit Blick auf sein eigenes Werk als Hintergrund das wissenssoziologische Konzept von Robert Merton, auf das er sich regelmäßig beruft (Bunge 1983, S.204).
Wie Merton in seinem bekannten Artikel über den sogenannten »Matthäus Effekt« in den Wissenschaften ausführt, ist die erfolgreiche Publizität eines Intellektuellen im Feld der Wissenschaften eng verknüpft mit den Leistungen in seinem Forschungsfeld.
Merton beschreibt im Einzelnen, dass es hier dennoch ein Paradoxon gibt: Wissenschaftler, die bereits große Bekanntheit erreicht haben, bekommen häufig Verdienste anderer zugeschrieben, ohne die entsprechenden Leistungen selber erbracht zu haben. Merton weist in diesem Zusammenhang auf das Matthäus Evangelium: »Denn wer hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen.« (Merton 1988, S. 608-9)
Merton erläutert in der Folge, dass es Wissenschaftlern als Intellektuellen trotz dieser Form unverdienter Popularität um eine besondere Form von Ruhm geht, die sich deutlich von einer Berühmtheit in der breiten Öffentlichkeit unterscheidet. Es ginge nicht um das »Messing der populären Prominenz«, sondern um das »Gold des wissenschaftlichen Ruhms«. Er erwähnt in seinem Artikel dazu einen Vortrag des Ökonomen Paul Samuelson, der bei einer Ansprache im Kreise seiner Kollegen betonte, dass es Fachwissenschaftlern wie ihnen nicht um das Glänzen in der allgemeinen Öffentlichkeit geht. Stattdessen ginge es ihnen um die einzig lohnenswerte Auszeichnung für einen Ökonomen: um den Applaus der Fachkollegen.
Legen wir zur Beurteilung von Mario Bunges Fall von Publizität beispielsweise die sogenannte »Hall of Fame« der American Association for the Advancement of Science (AAAS) zugrunde, wird deutlich, dass der argentinische Philosoph mit seinem Werk erfolgreich genau diesen Applaus von Fachkollegen erreichen konnte. In diesem Fach-Ranking von Wissenschaftlern aufgrund der Häufigkeit, in der ihre Werke in Fachpublikationen zitiert werden, waren seine Schriften im vorderen Feld positioniert. Hier befand sich Mario Bunge mit seinen Veröffentlichungen in direkter Nachbarschaft zu prominenten Forscher-Persönlichkeiten wie Richard P. Feynman – Physiker und einer der Schöpfer der Quantenelektrodynamik – und Viktor Emil Frankl – Psychiater und Begründer der Logotherapie. Im Unterschied dazu spielte Jürgen Habermas, der in einer von Massenmedien zusammengestellten Liste von internationalen »öffentlichen Intellektuellen« wie gesehen einen Spitzenplatz erreicht, in der »Hall of Fame« keine Rolle.
Hier werden Rang-Plätze aufgrund von fachlicher Qualifikation und Positionierung bestimmt. Habermas‹ Werk scheint unter Maßgabe solcher Kriterien bedeutungslos. Er gilt unter soziologischen Fachwissenschaftlern als Autor, dessen Veröffentlichungen nicht zu dem Konzept einer »Sozialwissenschaft als Wirklichkeitswissenschaft« passen – wie es der österreichische Soziologe Max Haller in seinem Lehrbuch zur theoretischen Soziologie ausgeführt hat (Haller 2006). Aus der Sicht des international renommierten Universitätsdozenten und ehemaligen Präsidenten der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie abstrahiert Habermas von der gesellschaftlichen Realität, um stattdessen moralisch zu argumentieren. Haller kritisiert, dass Habermas versäumt, seine Konzepte mit wissenschaftlichen Erklärungen sozialen Handelns oder sozialer Prozesse zu begründen (Haller 2006 S. 50-1) – einen »empirielosen Theorismus« nennt der Schweizer Soziologe Peter Max Atteslander Habermas‹ Argumentations-Strategie (Atteslander 2006, S. 312). – Bei der Diskussion wissenschaftstheoretischer Fragestellungen innerhalb der Soziologie – etwa der Begriffe Sozialsystem, Systemstruktur übrigens – favorisiert Max Haller bezeichnenderweise in seinem Theorie-Lehrbuch das Werk Bunges und bezieht sich dabei auf dessen “Finding Philosophy in Social Science”.
Die Schwierigkeit, die großen wissenschaftlichen und philosophischen Fragen öffentlich zu klären
Mario Bunges empirisch-wissenschaftlicher Philosophie-Ansatz hat wie gesehen auf Fachwissenschaftler tatsächlich Wirkung ausgeübt und in verschiedenen Forschungsfeldern Bekanntheit erreicht. Wie Mario Bunge zu Abschluss seiner Autobiografie bemerkt, betrachtete er seine Bücher wie ein Wissenschaftler als ein vorläufiges Arbeitsergebnis, als Teil eines laufenden Forschungsprojektes – im krassen Gegensatz etwa zu »heiligen Schriften« einer Sekte, die lediglich als Vorlagen der Predigten ihrer Jünger dienen (Bunge 2016, S. 408).
Passend dazu hatte er einen »B Test« mit folgenden Prüfungs-Fragen zur Überprüfung des Wertes von Philosophien vorgeschlagen (Bunge 2003, S. 29):
A. ist diese klar und konsistent formuliert?
B. ist sie mit den bekannten und bestätigten empirischen Fakten in Übereinstimmung?
C. hilft sie, interessante neue philosophische Probleme zu identifizieren?
D. hilft sie, Schlüsselbegriffe der Philosophie zu klären und zu systematisieren?
E. bietet sie Unterstützung, um Untersuchungen innerhalb und außerhalb der Philosophie voranzubringen?
I. setzt sie in die Lage, kompetent und konstruktiv, an aktuellen wissenschaftlichen, moralischen oder politischen Kontroversen teilzunehmen?
G. hilft sie dabei, Unsinn zu identifizieren?
H. verfügt sie über ein niedriges Wort-Gedanke-Verhältnis – ist sie treffend formuliert?
Um mit seiner eigenen Philosophie dieser durch das Konzept empirischer Wissenschaften inspirierten Checkliste gerecht zu werden, hat Mario Bunge wie oben bereits angesprochen sein Werk als Ganzes als umfassende »Wahrheits-Technologie« entworfen. Hiermit setzt er sich bewusst von »populären« Philosophen und ihren Werken ab und gewinnt seine individuelle Positionierung. Dazu hebt er mit Blick auf seine Philosophie die Perspektive des umfassenden Problemzusammenhangs hervor. Denn sein Grundkonzept besagt, dass die »großen Fragen der Philosophie miteinander eng verknüpft« sind (Bunge 2010a, S. VII-XII). Das ist aus seiner Sicht der Grund dafür, warum es sich hierbei um große und nicht etwa um kleine Probleme handelt. Diese treten nicht separiert oder vereinzelt auf, sondern bilden ein verschlungenes Fragebündel und sind in diesem Gesamtzusammenhang zu bearbeiten, um bewältigt zu werden.
Laut Mario Bunge erfordert diese Bewältigung des philosophischen Problem-Komplexes möglichst klare Gedanken gestützt auf eine integrierte Begrifflichkeit sowie ein systematisches Vorgehen. Wer aus seiner Sicht aus dieser umfassenden Problemperspektive in den Werken populärer philosophischer Autoren blättert, erkenne schnell, dass hier das Verfolgen einer umfassenden Systematik kaum eine Rolle spielt. Eher zu beobachten sei die bloße Aneinanderreihung mehr oder weniger »tiefschürfender« Aphorismen. Aus Sicht Mario Bunges erreichen die damit dargebotenen verstreuten, vermeintlich klugen philosophischen Gedanken nicht das Ziel umfassender philosophischer Problemklärung. Stattdessen sieht er solche fragmentierten Gedanken als Zeichen dafür, dass gedanklich improvisiert wird, statt dass werthaltige und anschlussfähige Gesamtkonzepte entwickelt werden.
Eine Philosophie, die diese Werthaltigkeit und Anschlussfähigkeit erreichen kann, folgt gemäß Mario Bunge einer spezifischen Systematik, die er an verschiedenen Stellen seines Werks erläutert, und die in der Regel über folgende Struktur verfügt (Bunge 2006, S. 250-82):
Ontologie – Seinslehre: die Lehre vom Grundaufbau der Realität
Epistemologie – Erkenntnislehre
Semantik – Theorie des Bezugs von Sprache und Symbolen zur Realität sowie der Kriterien der Formulierung objektiven Wissens
Methodologie – Theorie der Methoden zur Ermittlung objektiven Wissens
Axiologie – Theorie der Werte und der objektiven Kriterien zur Beurteilung von Wertschätzungen
Ethik – Theorie der Moral
Praxeologie – Theorie des effektiven und moralischen Handelns
Diese Besonderheit seines philosophischen Konzepts – ihre unvermeidbare inhaltliche Verbundenheit und Geschlossenheit komplexer Problemzusammenhänge hat entscheidende Auswirkungen auf die Möglichkeit, Mario Bunges Philosophie einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Denn die Komplexität dieses Werks überbeansprucht das Abstraktionsvermögen philosophischer Laien zum einen und macht dadurch zum anderen die Popularisierung von Mario Bunges Büchern enorm schwierig.
Einen lebendigen Einblick in diese Vermittlungs-Problematik bekam ich stellvertretend für Bunge im Vorfeld dieser Überlegungen als Buch-Autor einer deutschsprachigen Einführung in die Philosophie des Argentiniers (Droste 2015). Auf Vermittlung des herausgebenden Verlages bekam ich Gelegenheit, in Frühjahr und Sommer des Jahres 2016 den Inhalt des Buchs auf einer Lesereise in Süddeutschland einem Laien-Publikum vorzustellen. Haupterfahrung dieser Lesungen war: Auf der einen Seite zeigte sich, dass Mario Bunges Konzepte im Detail ein Publikum fesseln können, das über keine besondere Erfahrung im Bereich Philosophie verfügt. Allerdings braucht die Vermittlung und Erläuterung der großen thematischen Verflechtungen seines Werks viel Zeit. Folge im Rahmen meiner Vorträge war, dass ich regelmäßig von Veranstaltern kritisiert wurde, weil die Lesung sich durch Nachfragen und Detail-Diskussionen derart in die Länge zog, dass der vorgegebene Zeitrahmen der jeweiligen Veranstaltungen meist „überstrapaziert“ wurde.
Die Weitgespanntheit der philosophischen Inhalte machen es allerdings nicht nur Laien schwer, den besonderen Wert Mario Bunges Philosophie nachzuvollziehen. Beobachtungen zeigen, dass auch Fachwissenschaftler, die seine wissenschaftstheoretischen Schriften in ihrem jeweiligen Fachbereich gut kennen und schätzen, Probleme haben, das umfassende Gesamtkonzept seiner Philosophie zu würdigen. Ein Grundproblem beispielsweise ist es für Sozialwissenschaftler auf der einen Seite und Naturwissenschaftler auf der anderen Seite, Mario Bunges typisches Übersteigen dieser beiden fachlichen »Dimensionen« – Gesellschafts- versus Naturwissenschaft – nachzuvollziehen.
In diesem Zusammenhang führte ich Gespräche mit zwei Autoren, die Bunges Philosophie nahestehen und mit ihm persönlich verbunden waren.
Vertreter der Sozialwissenschaften war dabei der bereits erwähnte Andreas Pickel – Soziologie- und Politologie-Professor an der Trent University, Petersborough, Ontario, Kanada. Mit ihm sprach ich bei einem Treffen anlässlich eines Berlin-Besuchs des Professors am 10. und am 11. September 2015 über die Vermittelbarkeit verschiedener wissenschaftstheoretischer Konzepte, die Bunge für das Feld der Sozialwissenschaften empfiehlt. Beispielsweise nutzt Mario Bunge bei der Diskussion des Konzepts des Sozialsystems den Emergenz-Begriff. Bei der Diskussion von Mario Bunges hiermit zusammenhängenden »systemistisch-emergentistischen Materialismus« mit Andreas Pickel zeigte sich, wie schwer nachvollziehbar für Sozialwissenschaftler Bunges Abgrenzung der epistemologischen Interpretation von derjenigen der ontologischen Interpretation der Emergenz ist (Droste 2011, S. 157-60). und dass hier offenbar für Vertreter des entsprechenden Wissenschafts-Bereichs grundlegender Klärungsbedarf besteht.
Ein weiteres Beispiel für ein Detail, das Fachwissenschaftlern Verständnisprobleme verursacht, ist Mario Bunges Konzept der Subjektunabhängigkeit und Materialität von kulturellen Artefakten. Sozialwissenschaftlern, denen häufig in wissenschaftstheoretischen Seminaren die »3-Welten-Lehre« von Popper als philosophische Grundperspektive nahegebracht wurde, ist es schwer zu vermitteln – es wirkt beinahe verstörend -, dass im Rahmen einer materialistischen Ontologie konsequent kein Platz für eine »Welt realer objektiver Gedankeninhalte« besteht (Droste 2011, S. 194-7). Bunge spricht in diesem Zusammenhang vom »Mythos des subjektunabhängigen Wissens« und empfiehlt die Nutzung eines gemäßigten Fiktionalismus. – Sozialwissenschaftler müssten zunächst ihre tiefsitzenden, aus dem Idealismus übernommenen Vorstellungen der Dynamik und Wirksamkeit von kulturellen Phänomen wie nationale Sprache, nationale Identitäten usw. fallenlassen, um sich hierauf einlassen zu können.
Den – sich meist auf einer anderen, häufig einer »wissenschaftlicheren« Seite wähnenden – Naturwissenschaftlern begegnen ebenfalls Probleme mit Bunges philosophischer Gesamtperspektive. Das ergab ein Interview mit Martin Mahner, einem promovierten Zoologen, Co-Autor und Freund Mario Bunges, den ich am 17. Februar 2015 am Standort seines Arbeitsplatzes in Roßdorf bei Darmstadt interviewen konnte.
Mario Bunge hatte mich per Korrespondenz bereits auf das Gespräch mit seinem ehemaligen Postdoktoranten eingestimmt: »… der Unterschied zwischen mir und Martin Mahner besteht darin, dass er nicht an die Sozialwissenschaften glaubt – er ist nicht nur Biologe, sondern auch ein Biologist. Deshalb bezeichnet er sich als Naturalist.«
Das folgende Interview bestätigte Bunges Hinweis: Mahner zeigt sich im Laufe des Interviews nicht interessiert an einem Gespräch über vermittelnde wissenschaftsphilosophische Konzepte für Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Weder die wissenschaftstheoretische Diskussion in der Soziologie und den angrenzenden Gesellschaftswissenschaften war für das Interview ein möglicher Diskussionspunkt, noch die neuzeitliche Philosophie-Geschichte. Stattdessen kritisierte Mahner mit Blick auf seinen Aufenthalt als Postdoktorant an der McGill University, dass Mario Bunge sich damals, Anfang der 1990er Jahre, auf die Sozialwissenschaften konzentrierte, statt sich einem naturwissenschaftlichen Forschungsfeld wie beispielsweise der Biologie zu widmen.
Im Dienste des eigenen Ruhms arbeiten
Zwischenergebnis an dieser Stelle: Die Ganzheitlichkeit seines philosophischen Konzepts erschwert die Popularisierung Mario Bunges Werks genauso, wie es das Auftreten einer breiten Anhängerschaft für sein philosophisches Gesamtkonzept unwahrscheinlich macht.
Bunges philosophische Forschungsstrategie, seine umfassende Problemperspektive sowie seine Strategie, im Laufe seines Arbeitslebens Problembereich für Problembereich zu vertiefen und nacheinander jeweils auf unterschiedlichste Wissenschaftsfelder zu fokussieren, hat weitere Nachteile für die Bekanntheit seines Werks:
In seiner Autobiografie kommt er immer wieder auf das ihm wichtige Thema der Herausgabe seiner Bücher zu sprechen. Er beschreibt, wie er sich häufig über längere Zeiträume geduldig um passende Verleger bemühen musste. Eine typische Lebenssituation für ihn: Wer mit ihm korrespondierte und sich nach seinem Befinden erkundigte, bekam als Indikatoren für seine Situation ein aktuelles Buchprojekt genannt sowie den Status bei der entsprechenden Suche nach einem möglichen Verleger.
Autoren, die sich anders als Mario Bunge stärker auf ein überschaubares Themenspektrum konzentrieren, in dem sie bereits erfolgreich Öffentlichkeit und Verkaufserfolg erreicht haben, erzielen bei Lektoren und Verlagen schneller Zustimmung – Marketing- und Vertriebsmaßnahmen sind bei deren Bücher besser planbar.
Seine typische Unempfänglichkeit für die Anforderungen persönlichen Ruhms, die sich wie gesehen an verschiedensten Details beobachten lässt, hat für Mario Bunges Werk und dessen besondere Qualität allerdings entscheidende Vorteile:
Da Bunge wie gesehen für den »Sirenen-Gesang« des Ruhms – zumindest auf einem Ohr taub – zu sein scheint, bleibt ihm der mediale, äußere Einfluss durch die Öffentlichkeit auf die Gestaltung seines Werks erspart. Dieser Umstand kann als bedeutender Vorteil des Werks Mario Bunges betrachtet werden.
Immanuel Kant ist es bekanntlich anders gegangen. Er glaubte, mit der Kritik der reinen Vernunft die Existenz einer für die »Menschheit unentbehrlichen Erkenntnis« aufgedeckt zu haben, auf die »mit der Zeit auch Popularität folgen« (Kant 1783/1976, S. 8) sollte. Für die Erreichung der Popularität der Vernunftkritik war er bereit, erheblichen Aufwand zu treiben. Bereits direkt nach Erscheinen des Buchs war ihm klar, dass dieses Hauptwerk seines Lebens auf eingehendes Studium »nur bei sehr wenig Lesern gleich anfangs rechnen« könne (Kant in einem Brief an Marcus Herz am 11 Mai, 1781 – Kant 1972, S. 195).
Die Probleme mit der Popularisierung der Vernunft-Kritik waren sogar wesentlich größer als er diese erwartet hatte, denn ein Jahr lang erschien überhaupt keine Rezension. Und die erste, die in den »Göttingischen gelehrten Anzeigen« erschienene sogenannte »Göttinger Rezension«, erwies sich als ein von zwei populär-philosophischen Autoren zusammengestückter Verriss der Kritik der reinen Vernunft. Kant musste einsehen, dass das sich dabei zeigende Unverständnis zumindest teilweise »von der Weitläufigkeit des Plans« seiner Vernunftkritik herrührte, also von ihm selbst verschuldet war (Kant 1976, S. 8). In der Folge setzte er viel Kraft darein, für Abhilfe zu sorgen. Kant verfasste zu diesem Zweck einen Erläuterungsband zur Vernunftkritik – die sogenannte »Prolegomena« (Kant 1783/1976).
Anschließend überarbeitete er die erste, bereits im Jahr 1781 erschienene Ausgabe der Kritik umfassend. Die zweite Ausgabe erschien im Jahr 1787, und schließlich erweiterte Kant sein kritisches Projekt um zwei weitere Bände, um so das möglichst umfassende Verständnis seiner Leser zu begünstigen – um die Kritik der praktischen Vernunft und um die Kritik der Urteilskraft. Geopfert hat Kant durch die damit verbundene zeitliche Investition – im Tausch mit dem schließlich erreichten Ruhm seiner Kritiken – seinen Plan der Erstellung einer Naturphilosophie, zu deren Vollendung die verbleibende Arbeitskraft bis zu seinem Ableben im Jahr 1804 nicht mehr ausreichte: In seinem Nachlass – dem sogenannten Opus postumum – findet sich lediglich ein ungeordneter Wust von naturphilosophischen Notizen.
Fazit: Der Intellektuelle, der sich für sein Werk Popularität wünscht und sich deshalb in die Obhut von Publizisten und Verlagen begeben muss, um seine Gedanken-Produktionen auf das Publikums-Verständnis auszurichten, »wird vom Gelehrten zum Publizisten, ohne dass er es selbst merkt« (Schelsky 1965, S. 324). – Der Soziologe Helmut Schelsky hat bei seinen Untersuchungen zum Einfluss von Publizistik auf die Arbeit von Intellektuellen auf diese Gefahr hingewiesen: Dieser gewandelte Intellektuelle laufe Gefahr, zum »Funktionär« und »Sklaven« seines eigenen publizistischen Erfolgs zu werden. Schelsky zieht den Schluss, dass die Prominenz zur gefährlichsten Bedrohung eines schöpferischen Menschen werden kann, dem dieser allerdings durch »Unterlaufen der Publizistik« entkommen könne (Schelsky 1975).
Mario Bunge ist dieses »Unterlaufen der Publizistik« gut gelungen. Bis kurz vor seinem Tod folgte er konzentriert seinem eigenen Forschungsprogramm. Bereits die Bände und die thematische Struktur seines Hauptwerks Treatise on Basic Philosophy hatte er von Beginn an geplant. Zwar war er Anfang der 1970er Jahre von sieben Bänden ausgegangen, die in sieben Jahren geschrieben werden sollten, um die zusammenhängenden philosophischen Probleme aus einer integrierten Perspektive anzugehen. Stattdessen wurden es dann neun Bände, die er zwischen den Jahren 1974 bis 1987, also innerhalb von 13 Jahren schrieb. Und schließlich ergänzte er mit Political Philosophy ein Buch, das er als zehnten Band seines Hauptwerks verstanden wissen will (Bunge 2016, S. 226). Die Abweichung vom Ursprungsplan ist anders als im Fall von Kants Kritiken kein Tribut an die Verständnisfähigkeit oder Akzeptanz des Publikums, sondern ergab sich dadurch, dass seine Überlegungen in den Details ergaben, dass manche Problemlösungen mehr Raum erfordern, als ursprünglich gedacht.
Interessanter Nebeneffekt: Dadurch, dass Bunge in der Lage war, das Verfassen seines Hauptwerks recht genau zu planen, war es ihm vergönnt, eine Autobiografie zu schreiben – zunächst in spanischer, danach in englischer Sprache – und so sein eigener Chronist zu werden. – Immanuel Kant war dies nicht gelungen. Dass sich heute das Philosophen-Publikum Kant als einen übertrieben disziplinierten Mann vorstellt, »der nach der Uhr lebte«, geht auf einseitige Darstellungen von Zeitgenossen zurück, die ihn vor allem als Greis kannten (Kuehn 2001). Hätte Kant ebenfalls mehr Zeit eingeplant für eine authentische Selbstdarstellung, wäre ihm wahrscheinlich erspart geblieben, heute im Bewusstsein der Nachwelt als zwangsneurotische Karikatur eines Philosophen zu erscheinen.
Öffentliche Intellektuelle werden von Medien gezielt als “diskursive Kampfhähne” in die Arena geführt. (Arib Neko – Unsplash)
Intellektuelle übernehmen Rollen in öffentlich inszenierten Dramen.
Wer den Status eines »public intellectuals« anstrebt, geht für sich und sein Werk offenbar Risiken ein. Doch die damit verbundenen Gefährdungen gehen weiter: PIs, die danach drängen, eine öffentliche Rolle zu spielen, bewegen sich in einem gesellschaftlichen Feld, in dem sie Anteil nehmen an Prozessen, die mit Risiken für weite Bevölkerungs-Kreise verbunden sein können. Darauf hat der im Jahr 1929 als Werner Falk in Köln am Rhein geborene, frühzeitig angesichts der heranbrechenden Nazizeit mit seinen Eltern emigrierte US-amerikanische Soziologe Amitai Etzioni hingewiesen, der umfassende, jahrzehntelange Erfahrungen als »sometime-public intellectual« sammeln konnte (Etzioni 2003). Er war zeitweise Berater des amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter und gilt mit Blick auf seinen Kommutarismus als »geistiger Inspirator« des englischen Premierministers Tony Blair.
Etzioni berichtet darüber, dass er aufgrund dieser erfolgreichen Karriere als »public intellectual« häufig von Kollegen um Rat gebeten wird. Diese Wissenschaftler streben an, ebenfalls erfolgreiche PIs zu werden, und bitten um Einsicht in Etzioni’s PI-Know-how. Sie wünschen gezielte Tipps, denn sie träumen davon, irgendwann einmal eingeladen zu werden, in einer renommierten, landesweit erscheinenden Tageszeitung einen bedeutenden, die Mächtigen des Landes aufrüttelnden Kommentar zu veröffentlichen.
Amitai Etzioni verrät, dass er selbst auch von ähnlichen Ruhmes-Visionen angetrieben war. Er dachte dabei an den berühmten offenen Brief des Schriftstellers Émile Zola vom 13. Januar 1898 in der Tageszeitung L’Aurore an den damaligen Präsidenten der Französischen Republik – ein ganzseitiger Artikel auf der Titelseite, durch den die Klärung der berühmten Dreyfus-Affaire eingeleitet wurde.
Etzioni gab den Nachfragen seiner Intellektuellen-Kollegen nach und formuliert Regeln für das Vorgehen erfolgreicher, medienwirksamer PIs. Dazu erläutert er einige wesentliche Zusammenhänge:
Rund um das Auftreten öffentlicher Intellektueller gibt es in der Betrachtung des Publikums auf der einen Seite und der intellektuellen Akteure auf der anderen Seite eine komplementäre Illusion darüber, welche sozialen Mechanismen ablaufen, wenn Massenmedien Meinungsäußerungen öffentlich inszenieren.
So herrscht beim Publikum angesichts des Auftretens von PIs die Illusion vor, Zeugen des Erscheinens einer außeralltäglich kompetenten Persönlichkeit zu werden, die über gewisse prophetische Gaben zu verfügen scheint. Passend dazu sehen sich auf der anderen Seite die öffentlich auftretenden Intellektuellen als Persönlichkeiten, die durch ihre mutige Äußerung und ihre Kompetenz einen allseits geschätzten positiven Einfluss auf Entwicklungen des Landes nehmen können.
Amitai Etzioni räumt mit diesen ineinander spielenden Illusionen auf, indem er die ihn um Rat bittenden Ruhmes-Interessenten mit den Hintergründen relevanter Meinungs-Bildungsprozesse im Rahmen des Auftretens von PI‹s konfrontiert:
Das Erscheinen von Intellektuellen in der Öffentlichkeit ist ein Vorgang, der maßgeblich von den Massenmedien selber gestaltet wird. Zwar ist das individuelle Interesse eines Intellektuellen – zumindest sein Einverständnis, sich öffentlich darzustellen – hierfür eine Grundvoraussetzung. Doch reicht dieser Wunsch nach Selbstdarstellung nicht aus. Stattdessen werden PIs als Akteure von den Massenmedien systematisch aufgebaut und für ihre Rolle in den Medien gezielt »sozialisiert«.
Im Vorfeld halten Vertreter der Medien kontinuierlich nach Personen Ausschau, welche die Rolle eines öffentlichen Intellektuellen bei einer passenden Gelegenheit spielen könnten. Dazu verfolgen Redakteure die Berichterstattung in wissenschaftlichen Fachmedien und werten die Resonanz von Beiträgen aus. Tritt bei wissenschaftlichen Events wie Kongressen eine Person hervor, die sich profilieren konnte und die über die entsprechende Kommunikations-Fähigkeit verfügt, ausreichend telegen ist und verspricht, interessante Sachverhalte authentisch – pointiert und deutlich – zu repräsentieren, findet eine Vorauswahl dieses Wissenschaftlers statt.
Anschließend wird dieser ausgewählte Intellektuelle zunächst bei kleineren medialen Anlässen auf die Probe gestellt – etwa zu einem Thema vor laufender Kamera befragt, bei Vorträgen gefilmt usw. Zug um Zug werden ihm größere mediale Auftritte und Rollen zugemutet.
Diese Rollen gehören dabei zu einem »Drehbuch« einer Inszenierung, das die Medien und keineswegs die jeweiligen Intellektuellen bzw. Wissenschaftler vorgeben. Denn die im Laufe der Zeit Prominenz gewinnende öffentliche Person hat aus dem Blickwinkel der Medien die Funktion, möglichst erfolgreich die Aufmerksamkeit von Medienkonsumenten zu gewinnen und zu binden. Die zuständigen Redakteure achten bei ihren Inszenierungen der Auftritte der ausgewählten Intellektuellen darauf, dass diese nicht als Personen zum zentralen Inhalt werden oder sogar die thematische Gestaltung von Sendungen übernehmen.
Etzioni beschreibt, wie PIs in der Dramaturgie der Medien zwar eine Hauptrolle spielen können, wobei der Ablauf der in Szene gesetzten Handlung von Anfang an von Redakteuren vorgegeben ist. PIs ist die Rolle zugedacht, im Rahmen der Diskussion eines aktuellen Themas eine von mehreren konträren Haltungen zu repräsentieren. Ein öffentlicher Intellektueller erfüllt in diesem in Szene gesetzten »Drama« die Erwartungen von Medienvertretern umso besser, je deutlicher er eine These bzw. eine Antithese gegenüber anderen Personen vertritt, er also gut planbar in verschiedensten medialen Formaten als »diskursiver Kampfhahn« eingesetzt werden kann.
So lange es einem Intellektuellen gelingt, diese Diskurs-Rolle auf eine für das Publikum interessante und fesselnde Weise zu spielen, wird er von einer zur anderen Sendung oder Veröffentlichung weiter berücksichtigt.
Nach einiger Zeit lässt die Zugkraft öffentlicher Intellektueller beim Publikum erfahrungsgemäß nach. Dann ist der Augenblick gekommen, dass diese Persönlichkeit von den Redakteuren aus ihrem »öffentlichen Amt« genommen und durch einen »Nachfolger« ersetzt wird.
Etzioni erläutert, dass PIs in diesem Prozess Gefahr laufen, gegen ihre fachlichen Standards zu verstoßen und dadurch ihre Glaubwürdigkeit als Wissenschaftler einzubüßen:
PIs müssen Vieles von dem, was Qualitätsmerkmale ihrer Arbeit als Intellektuelle sind, beiseitelassen – etwa das differenzierte Argumentieren, das überzeugende Belegen von Behauptungen durch Fakten –, weil ihre Beiträge ansonsten nicht »allgemeinverständlich« genug sind und schlecht in massenmediale Formate passen. Sie müssen meist eine undifferenziert einseitige Stimme ertönen, sich in eine »Schublade packen« lassen, entweder schwarz oder weiß sein, als »Rechter« oder »Linker« auftreten, die Erfordernisse des Marktes und Profitinteressen uneingeschränkt befürworten oder uneingeschränkt verdammen usw. – differenzierte Zwischenpositionen passen nicht ins Programm. Weil sie sich auf diese Weise gezwungenermaßen von ihren fachlichen Standards entfernen müssen, wenn sie öffentlich auftreten, erhalten PIs daher keinen Beifall aus dem eigenen Fach, sondern werden stattdessen aus dieser Richtung kritisiert (Posner 2003, S. 399).
Die Menschen-versachte Erwärmung unserer Atmosphäre: Kaum ein zweiter wissenschaftlicher Tatbestand wird so umfassend von relevanten Fachwissenschaftlern bestätigt wie die zunehmende Klimaveränderung. Dennoch schickt sich die Menschheit an “Baden zu gehen”. (Melissa Bradley – Unsplash)
Wissenschaftler übernehmen in der öffentlichen Diskussion oft Opferrollen.
Allerdings gehen die Risiken, die Intellektuelle mit ihrem Rollen-Spiel als PIs verursachen, wesentlich weiter. Probleme basieren nicht allein darauf, dass Intellektuelle den eigenen fachlichen Ruhm gefährden, wie Etzioni dies beschreibt. Die Handlungsfähigkeit in wichtigen politischen Entscheidungs-Situationen innerhalb einer Gesellschaft kann dadurch eingeschränkt werden.
In ihrem vielbeachteten gemeinsamen Buch Merchants of Doubt zeigen die Wissenschaftshistoriker Naomi Oreskes und Erik Conway, wie ein kleiner, einflussreicher Kreis von Intellektuellen für öffentliche Auftritte als PIs »angeheuert« wurde, um wichtige politische Entscheidungen zu verhindern (Oreskes & Conway 2010). Wissenschaftler, die sich in ihrer früheren Karriere Renommee angeeignet hatten, übernahmen die Rolle, ihre Bekanntheit zu nutzen, um bei den Themen Gesundheitsschädlichkeit des Rauchens oder der Erwärmung der Erdatmosphäre zu behaupten, die zuständigen Wissenschaften hätten keine entscheidungsrelevanten Fakten ermitteln können.
Naomi Oreskes und Erik Conway beobachten, dass Intellektuelle aus den empirischen Wissenschaften große Probleme haben, mit den typischen einseitigen und sachfremden Inszenierungen in den Massenmedien fertig zu werden. Durch ihre Selbstverpflichtung auf Sachkenntnis und Objektivität befinden sie sich in einer heiklen Lage, wenn es darum geht, als PIs öffentlich aufzutreten und falschen Behauptungen zu widersprechen.
Der in der Öffentlichkeit durch gewisse Wortführer stetig genährte Grundverdacht, Wissenschaftler verfolgten insgeheim ideologische oder politische Interessen, führt bei ihnen zu einem Zustand der Einschüchterung. Sie haben Angst davor, ihnen könnte vorgeworfen werden, sie hätten ihre fachliche Objektivität verloren. Deshalb neigen sie dazu, sich herauszuhalten, wenn beispielsweise die Klimaerwärmung und ihre schädlichen Auswirkungen öffentlich diskutiert werden. Insgeheim hoffen sie auf die sich selbst verwirklichende Kraft der Wahrheit:
Forscher sehen es zwar als ihre Aufgabe an, herauszufinden, was wahr ist. Wird demgegenüber irgendwo in der Öffentlichkeit Unsinn verbreitet, glauben sie, es müsste sich jemand anderer darum kümmern, was häufig aber nicht geschieht.
Aufgrund dieser Einstellung sind Wissenschaftler unter anderem eine leichte Beute politischer und wirtschaftlicher Manager, die den Tatbestand der sogenannten „anthropogenen“ globalen Erwärmung unserer Atmosphäre leugnen. Trotz grundlegender, durch Forschung bestens gesicherter Erkenntnisse der Klimaforschung gelingt es diesen »Klimaskeptikern« ohne großen Widerspruch, den menschlichen Ursprung der schnell voranschreitenden Klimaveränderung in Zweifel zu ziehen. Dazu brauchen sie lediglich ihnen »gewogene« PIs öffentlich behaupten zu lassen, die Wissenschaft wäre sich nicht einig über die negativen Klimafolgen gesteigerter Kohlendioxid-Emissionen.
Der Kampf gegen Anti-Wissenschaftler und Pseudo-Wissenschaftler
Wie gesehen orientiert sich Mario Bunge mit seinem Philosophie-Konzept an den Standards erfolgreicher empirischer Wissenschaften. Dennoch ist er als Intellektueller keineswegs ebenfalls eine »leichte Beute« der beschriebenen Fakten-Manipulierer geworden. Zu Beginn dieses Beitrags haben wir bereits gesehen, dass Mario Bunge Fehlinterpretationen von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen in seinem Werk scharf widerspricht. Einige seine Reaktionen zum öffentlichen Umgang mit dem Thema »Klimaerwärmung« wurden erwähnt.
Die Kritik an öffentlichen verfälschenden Interpretationen von Wissenschaft ist in Mario Bunges Werk ein ständig auftauchendes Motiv. In großer thematischer Vielfalt griff er bevorzugt die von Massenmedien aufgebauten »Lieblings-Denker und -Autoren« auf, um sie zu »demontieren« und an ihnen sein philosophisches Konzept abzuarbeiten.
Seine Kritik verfolgte dabei eine Grundstrategie, die sich auf die Diskussion der Beiträge von Intellektuellen zweier grundlegender Richtungen konzentrierte. Ähnlich wie Baron Charles Percy Snow in seinem berühmt gewordenen Vortrag im Frühjahr 1959 (Snow 1959/1998), unterscheidet Mario Bunge zwei »Intellektuellen-Kulturen«, auf die er sich als Rezensent fokussiert:
Zum einen die »literarisch« orientierten Intellektuellen – zum anderen Intellektuelle, die als Nutznießer der Ergebnisse der erfolgreichen modernen Wissenschaften auftreten.
Aus Bunges Sicht sind Vertretern beider »Kulturen« für von Massenmedien populär gemachte Beiträge verantwortlich, welche die Ergebnisse empirischer Wissenschaften falsch interpretieren und dadurch die Möglichkeiten behindern, wichtige Erkenntnisse zukünftig für die Verbesserung der Lage der Menschheit zu nutzen(Bunge 2017, S. 137-59).
Mario Bunge investierte in seinem Werk viel Raum und kritische Argumentation, um sich von diesen beiden, große öffentliche Resonanz erzielenden intellektuellen Gruppen zu distanzieren:
von Anti-Wissenschaftlern und Anti-Realisten – von Intellektuellen, die die Moderne und die damit verbundene wissenschaftliche Revolution ad absurdum führen möchten.
von Pseudo-wissenschaftlichen Provokateuren und Zynikern – Intellektuelle, die den Wert von bestimmten Theorien, vermeintlich wissenschaftlichen, häufig reduktionistischen Ansätzen überschätzen, aus wissenschaftlichen Befunden unhaltbare und wissenschaftsphilosophisch unreflektierte Schlussfolgerungen ziehen.
Zu den Anti-Wissenschaftlern und Anti-Realisten, die Bunge regelmäßig in seinen Veröffentlichungen teilweise detailreich kritisiert, gehören beispielsweise Edmund Husserl und seine Phänomenologie, Friedrich Nietzsche und seine Anti-Ethik, Thomas S. Kuhn und sein Konzept wissenschaftlicher Revolutionen, Paul Feyerabend und seine anarchistische Wissenschaftstheorie, Jürgen Habermas und sein Konzept von Wissenschaft und Technologie, Martin Heidegger und seine Fundamentalontologie, Paul-Michel Foucault und sein Poststrukturalismus.
Bunge scheute sich nicht, mit diesen Autoren hart ins Gericht zu gehen: Heidegger zum Beispiel war seiner Meinung nach “einer der schädlichsten Scharlatane seiner Zeit” (Bunge 2016, S. 218), der als ” Kulturverbrecher” (Bunge 2016, S. 209) bezeichnet werden sollte.
Zu den populären pseudo-wissenschaftlichen »Provokationen«, die er sich vornimmt, gehört die its-fom-bits-Physik mit ihrer digitalen Ontologie, die many-world-Kosmologie, Richard Dawkins genetischer Determinismus und sein meme-Konzept, Noam Chomskys Nativismus, John Carew Eccles und sein psychokinetisches Gehirn, Karl Raimund Popper, dessen Falsifikationismus und idealistische Drei-Welten-Lehre, Ernst Mach und sein Phänomenalismus oder Sigmund Freud und seine Psychoanalyse.
Bunge zeigt sich angesichts der Operationsweisen von öffentlichen Intellektuellen geradezu als Anti-PI und Opponent der PI-Kultur, die von Massenmedien der breiten Bevölkerung gegenüber inszeniert wird.
Es ist das Problem der zwei Kulturen – der fehlende Austausch, die wechselseitige Überheblichkeit, die letztlich verhindert, dass das bestmögliche Wissen Eingang findet in die Planung von Vorgehensweisen zur Bewältigung aktueller Krisen – das Bunge im Rahmen seines Werkes herausgearbeitet hat.
Es ist die Aufgabe nachfolgender Generationen, möglichst zügig Lösungen zu finden und zu implementieren.
Epilog – Nachbetrachtung
Mario Bunge griff meinen Hinweis auf Baron Charles Percy Snows Vortrag von 1959 übrigens auf. Er spricht dabei sinnbildlich von der “Aufklärer-Mannschaft”, welche zukünftig die Aufgabe hat, uns in der tiefdunklen Höhle des Unwissens den rechten Weg zu weisen und dabei unversehens an „zwei Fronten“ kämpfen muss (Matthews 2019, S. VII):
„(…) the enlightened crew has to fight on two fronts: the internal one of mostly honest but naïve torchbearers, and the external one bent on hoarding us back into the dark cave.”
“(…) die Aufklärungs-Crew muss an zwei Fronten kämpfen: an der inneren, bestehend aus meist ehrlichen, aber naiven Fackelträgern, und an der äußeren, gegen diejenigen, die darauf aus sind, uns zurück in die dunkle Höhle zu hetzen.“ (Übersetzung hd)
Mario Bunge starb hundertjährig Anfang 2020 – kurz vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Bis zu seinem Tod war er höchst produktiv. Wer mit ihm per Email korrespondierte, wurde von ihm per Dokumentenanhang mit seinen aktuellen Aufsätzen und Buchkapiteln versorgt. Als ich im Herbst 2019 meinen letzten Austausch mit ihm hatte, hängte er seiner Email drei seiner aktuellen Texte an: Ein Aufsatz zur Kritik an Pseudo-Wissenschaften („The dematerialization crusade“), zwei weitere zu wissenschaftstheoretischen Themen („Inverse Problems“ und „Chance“).
Im Laufe seines Lebens hat Mario Bunge 150 Bücher (einschließlich überarbeiteter Ausgaben und Übersetzungen) und 540 Artikel (einschließlich Übersetzungen) veröffentlicht.
Mario Bunge war am 21. September 1919 in Argentinien geboren worden. Väterlicherseits stammte seine Familie aus Westfalen – seine Mutter Maria kam aus Niedersachsen, aus der Nähe von Hannover; nach Argentinien gelangte sie als Krankenschwester des Roten Kreuzes.
Bunge hatte Lehrstühle für Physik und Philosophie an Universitäten in Argentinien (Universität Buenos Aires, Universidad Nacional de La Plata) und übernahm Lehraufträge in den USA (University of Texas, University of Delaware, University of Pennsylvania und Temple University) inne, bevor er 1966 als Professor für Philosophie an die McGill University in Montreal berufen wurde.
Diesen Lehrstuhl musste er 2009 „zwangsweise“ räumen – die Provinz Quebec erlaubt es Universitätsangehörigen nicht, über ihren 90. Geburtstag hinaus zu lehren.
Er absolvierte Gastprofessuren an großen Universitäten in Europa, Australasien sowie Nord- und Südamerika. Er hat viele angesehene Stipendien und Preise erhalten: Humbolt-, Guggenheim- und Killam-Stipendien – außerdem war er Prinz von Asturien-Preisträger.
Bunge war zweifellos einer der versiertesten, sachkundigsten und vielseitigsten Wissenschaftsphilosophen der Moderne. Er ist einer von nur zwei Philosophen in der Science Hall of Fame der American Association for the Advancement of Science: Er teilt sich dieses Privileg mit Bertrand Russell.
Über Russell schreibt Bunge übrigens, “als Teenager habe ich mich in die Philosophie verliebt, als ich Bertrand Russells Probleme der Philosophie las” (Bunge 2016, S. 43).
In seiner 500-seitigen Autobiografie Between Two Worlds: Memoirs of a Philosopher-Scientist (Bunge 2016) gibt Bunge einen Überblick über sein eigenes Leben und Werk. Die “Zwei Welten” im Titel stehen sowohl für die disziplinären Welten der Physik und Philosophie als auch für die kulturellen Welten Lateinamerikas und Nordamerikas. Aufschlussreich ist, dass der Namensindex des Buches etwa 1.200 Einträge enthält; die überwältigende Mehrheit davon sind Menschen, die Bunge während seines langen und produktiven Lebens getroffen und mit denen er korrespondiert hat; es handelt sich um ein “Who is Who” der zeitgenössischen empirischen Wissenschaften, Sozialwissenschaften und Philosophien: u.a. Albert Einstein – Physiker, Schöpfer der beiden Relativitätstheorien – , Werner Heisenberg – Entwickler der ersten mathematischen Formulierung der Quantenmechanik, Francis Crick – einer der Entdecker der Molekularstruktur der DNS, Robert K. Merton – Soziologe -, Jean Piaget – Pionier der Entwicklungs-Psychologie, Donald O. Hebb – Pionier der kognitiven Psychobiologie – , Hans Albert – Soziologe und Philosoph
Quellen-Angaben
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Im letzten Blog-Post haben wir anhand von Bales’ Visualisierung von Interaktionsprozessen gesehen, dass effektiv arbeitende Teams kreative neue Lösungsansätze in der Regel verhindern.
Gerade ansonsten effektiv arbeitende Teams brauchen offenbar mehr als guten Willen, um sich aus ihren Routinen herauszulösen.
Wir müssen davon ausgehen, dass engagiert arbeitende Teams in der Alltagsarbeit selbstgesteuert nicht in der Lage sind, neue Vorgehensweisen und innovative Problemlösungen zu „produzieren“.
Offenbar hat selbst der „kreativste Chef“ einer hochproduktiven Arbeitsgruppe keine Chance, in der Alltags-Arbeitsroutine Ergebnisse zu erreichen, die nach üblichen Maßstäben als kreativ beurteilt werden.
Um zu solchen Arbeitsresultaten zu kommen, müssen Interaktionsprozesse in Arbeitsgruppen angeleitet, organisiert, also „moderiert“ werden.
Agentur-Gründer und Kreativitäts-Pionier: Alex Osborn
Um zu zeigen, wie für die Erreichung von kreativen Arbeitsergebnissen günstige Bedingungen geschaffen werden, schauen wir uns die Arbeit eines Kreativitäts-Pioniers an. Alex Faickney Osborn (*24.05.1888 – +13.05.1966) – einer der Gründer der internationalen Werbeagentur BBDO (Batten, Barton, Durstine & Osborn) – hatte in jahrzehntelanger Arbeit ein Kreativitäts-Verfahren entwickelt, das auf die Erarbeitung von Kommunikations-Maßnahmen in Agenturen und Kommunikations-Abteilungen zugeschnitten ist. Für die weiterführende Forschung an diesem Verfahren und für die Kreativ-Qualifikation von Kommunikations-Professionals gründete er im Jahr 1954 zusammen mit der Universität Buffalo im Staat New York das international erste Institut für kreative Problemlösung: das „Creative Problem Solving Institute (CPSI)“.(1)
Osborn hatte die Probleme von Arbeitsgruppen bei der Bewältigung von Kommunikations-Aufgabenstellungen erkannt und entwickelte ein erfolgreiches Moderations-Verfahren für die kreative Problemlösung (CPS – „creative problem solving“), das grundlegende Interventionen in Gruppen-Prozessen nutzt.
Osborn hatte in seiner Beratungs-Praxis parallel zu den Untersuchungsergebnissen von Robert F. Bales in Harvard festgestellt, dass Arbeitsgruppen – wie er es nannte – „kreativer Imagination“ Widerstände entgegensetzen.(2) Ihm war aufgefallen, dass dieser Imagination mittels beurteilender Argumentationen und mittels latentem Skeptizismus folgenreich gegengesteuert wird. In die Sprache von Bales’ Ansatz übersetzt zeigte sich, dass die offen zu Tage tretende B-Orientierung in der Arbeitssituation stets mit massiven Äußerungen der F-Orientierung konfrontiert wurde.
Osborn hatte in diesem Zusammenhang eine differenzierte Sichtweise. Er stellte im Detail fest, dass die Vorteile und Stärken des beurteilenden Denkens (F) in der Gruppe darin bestehen, Arbeitsschritte zu organisieren, Fakten zu analysieren, abzuwägen, zu vergleichen, zusammenzufassen und Schlussfolgerungen zu bilden. Die Stärke der kreativen Imagination (B), sah er darin, aufgrund von Fakten zu improvisieren, um zu neuen Lösungen zu kommen, neue Verbindungen herzustellen und ungewöhnliche Ideen zu produzieren.
Osborn „bändigte“ einseitiges Denken
Osborn erkannte, dass hohe kreative Produktivität im Zusammenhang mit Kommunikations-Aufgabenstellungen möglich ist und regelmäßig erreicht werden kann. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die beiden betrachteten gegenläufigen Kompetenzen abgestimmt und separiert voneinander arbeiten können, ohne sich gegenseitig zu stören. Denn dominiert das beurteilende Denken (F) die Imagination (B), wirken einseitige Arbeitsroutinen, die im Laufe der Zeit die Effektivität der Gruppenarbeit an Problemlösungen stagnieren lassen. Mit Blick auf das Einstein-Zitat, das dem ersten Blog-Post dieser Serie vorweggestellt ist, können wir sagen, dass sich in dieser Konstellation Mitarbeiter in „Holzhacker“ verwandeln. Wird andererseits die kreative Imagination (B) überakzentuiert, häufen sich ungeprüfte, zu wenig durchdachte Ideen, die zu keinen befriedigenden Ergebnissen und stattdessen zu chaotisch anmutenden Grübeleien führen.
Der Weg zur gelingenden kreativen Arbeit besteht darin, die Gruppenarbeit von Kommunikations-Professionals so zu moderieren, dass sich beurteilendes Denken und kreative Imaginationen – statt sich zu stören – gegenseitig stützen.
Dazu sind Beurteilungs- und Kreativitäts-Arbeitsphasen getrennt voneinander, in geplanten Schritten parallel und nacheinander auszuführen. Auf diese Weise ist es möglich, dass ansonsten in Arbeitsgruppen regelmäßig auftretende „Kreativitäts-Abwürgen“ nach dem Motto „Jeder spritzt gerne kaltes Wasser auf heiß laufende Fantasien!“ zu beenden.(3)
Auf der Basis dieser Überlegungen entwickelte Osborn ein Konzept für einen einfach zu moderierenden kreativen Problemlösungs-Prozess.
Für die Leser, die diesen Prozess nutzen möchten, habe ich die wesentlichen Faktoren günstiger Gruppenbedingungen für die „Arbeit kreativer Hirnträger“ in übersichtlichen Checklisten aufbereitet – viel Erfolg beim Start der eigenen Kreativ-Konferenz:
Kreative Problemlösung:
Gruppen-Intervention – Grundidee
Es sind Kreativ-Konferenzen mit dem Ziel zu organisieren, variantenreiche Ideenlisten zu produzieren.
Diese Listen können später wichtige Anregungen zu Problemlösungsansätzen geben, weil die enthaltenen Ideen in einem getrennten Prozess sorgfältig analysiert, selektiert, bewertet und ausgearbeitet werden.
Die Veranstaltung jeder einzelnen dieser Konferenzen erfordert, dass das Prinzip des Zurückhaltens von Beurteilungen auf das Strengste beachtet wird.
Wichtige Regeln der Durchführung der Kreativ-Konferenzen
Kritische Kommentare sind verboten: Die Beurteilung der Ideen wird auf nachfolgende spezielle Arbeits-Meetings verschoben. In den Kreativ-Sessions geht es darum, möglichst viele, möglichst unterschiedliche Optionen zu sammeln.
„Je abgedrehter, umso besser!“: Es ist leichter, überdrehte Ideen auf ein „Normal-Maß“ zurückzubringen, als biederes, überkommenes Denken kreativ aufzuwerten.
„Nicht kleckern, klotzen!“: Je größer die Anzahl der aufkommenden Ideen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass nützliche Ansätze dabei sind.
Ideen sind „willkommen“ zu heißen: Das Äußern grundsätzlich jeder Idee ist zu loben und freundlich zu begrüßen. Gerade die Gedanken, die im Moment des Hervorbringens völlig abwegig erscheinen, können sich später als die tragfähigsten erweisen.
Moderation der Kreativ-Konferenzen: Profil
Es ist wichtig, dass die Moderatoren der Kreativ-Konferenzen eine ganze Reihe von Moderations- und Gruppen-Coaching-Strategien beherrschen und eine entsprechende – am besten mehrjährige – Moderations-Ausbildung absolviert haben.
Es ist ihre Aufgabe, die Motivation der Gruppen, ständig neue Ideen und ungewöhnliche Gedanken zu äußern, über die komplette Dauer der Session auf einem hohen Niveau zu halten.
Die Dauer der Session liegt idealerweise bei 40 bis 45 Minuten, wobei erfahrungsgemäß die besten Ideen erst in der zweiten Sessions-Hälfte auftauchen.
Vorbereitung
Die Moderatorin stellt die Teilnehmergruppe der Kreativ-Konferenz zusammen.
Sie bereitet eine Einladung vor, die ein Background-Memo von einer Seite Länge enthält.
Sie formuliert das Ziel der Session in einfachen, aber motivierenden Worten, so dass ein lebendiger Kommunikationsprozess vorprogrammiert wird.
Sie bereitet im Vorfeld der Konferenz eine eigene Liste mit Lösungsvorschlägen zum Thema auf. Im Fall eines Abebbens der Ideen-Lawine nutzt sie ihre provozierenden Vorschläge, um die Motivation der Gruppen neu anzustacheln.
Aufgaben während der Sessions
Zu Beginn der Konferenz sorgen die Moderatoren für ein ausreichendes warm-up und Einstimmen der Teilnehmer auf die Regeln der Kreativ-Session.
Sie bringen die Teilnehmer in kreative Stimmung, indem sie ein Klima schaffen, das spielerisch und fordernd zugleich ist.
Sie bestätigen die Teilnehmer in ihrem Engagement und vermitteln, dass jede Form von Kreativ-Beitrag geschätzt wird.
Sie verhindern, dass sich die Gruppe in Untergruppen aufteilt und sich einzelne Teilnehmer frustriert zurückziehen.
Dokumentation aller Beiträge
Die Moderatoren sorgen für die reibungslose Dokumentation aller geäußerten Gedanken.
Wenn Ideen von Teilnehmern gleichzeitig auftreten, können Vorschläge auf Karten geschrieben werden, die den Moderatoren im Anschluss übergeben werden.
Die Moderatoren können Assistenten mit in die Konferenz nehmen, welche die Aufgabe haben, die geäußerten Ideen auf einem Datenträger festzuhalten.
Nach der Kreativ-Konferenz fordern sie die Beteiligten auf, ihre Ideenproduktion nicht „abzuwürgen“. Stattdessen bekommen diese eine Möglichkeit an die Hand, weitere Ideen nachträglich in den Prozess einzubringen – etwa in Form eines Session-Protokolls mit Leerraum und der Bitte zur Ergänzung vervollständigender Ideen, dass kurz nach dem Meeting an die Teilnehmer verschickt wird.
Die Mannschaft der Kreativ-Konferenzen
Die Teilnehmergruppe der Kreativ-Konferenz umfasst idealerweise 12 Personen – der Moderator, sein Assistent und zehn Ideen-Produzenten.
Fünf dieser Ideen-Produzenten sollten bereits routinierte Kreativ-Konferenz- Teilnehmer sein.
Sie haben die Aufgabe, zu Beginn des Meetings für die übrigen fünf unerfahrenen Gruppenmitglieder das „Eis zu brechen“ und die Ideen-Lawine ins Rollen zu bringen.
In der Vergangenheit besonders erfolgreiche und routinierte Mitarbeiter in Unternehmen und Organisationen pflegen die kreativ-unbeweglichsten Teilnehmer zu sein. Sie sind von der Moderation in die Schranken zu weisen, falls sie den Fluss der Ideen durch skeptische Gesten abbremsen.
Die Mannschaft ist im Anschluss an jede durchgeführte Kreativ-Konferenz auszuwechseln. Für die folgende Konferenz möglichst „heterogene“ Teilnehmer einzuladen, bringt frische Ergebnisse
Die Auswertung der Kreativ-Konferenzen
In der Regel ist die Arbeit des Kreativ-Konferenzen-Teams mit der Ideen-Sammlung abgeschlossen.
Für die Bewertung, Auswertung und die Ausarbeitung der Ideen wird ein eigenes Team zusammengestellt.
Ratsam ist, dabei die Personen mit einzubeziehen, die später mit der Durchführung der nachfolgenden Maßnahmen betraut sind.
Wichtig ist, dass sich das Auswertungs-Team Zeit nimmt, die Kreativ-Sessions-Teilnehmer über den Ablauf des Kreativ-Verfahrens zu informieren und bei den Ergebnis-Präsentationen mit einzubeziehen. Hierbei sollte an Lob für das Engagement bei der Ideen-Produktion nicht gespart werden.
Kreativität in vier Teilen: Wie es weitergeht
Dies war der zunächst letzte Blog-Post zum Thema Kreativität.
Demnächst folgen Beiträge, die weitere Methoden und Modelle vorstellen, mit denen Teams arbeiten können, um innovativen Lösungen zu finden.
Anmerkungen
Informationen zum Hintergrund des CPSI finden sich im Internet unter folgender Adresse:
Im vorhergehenden Blog-Post haben wir gesehen, dass kreative Ideen und deren Umsetzungen plastische Hirne voraussetzen. Deren Plastizität und Operationsweisen sind eng verbunden mit Interaktionen in den Beziehungs-Netzwerken, in denen wir uns aufhalten und in denen wir nach kreativen Lösungen suchen.
Wenn wir in der Folge ein Verfahren für die kreative Entwicklung von Problemlösungen entwickeln, bekommen wir es vor diesem Hintergrund mit zwei grundlegenden Herausforderungen zu tun:
Zum einen haben wir eine Technologie bereitzustellen, mit Hilfe derer wir die Gehirne begabter Menschen anregen können, gezielt neue neuronale Systeme zu entwickeln, welche die Basis neuer Denkweisen und Herangehensweisen bilden.
Zum anderen haben wir bei dieser Technologie-Entwicklung für diese neuronale System-Neubildung förderliche soziale Voraussetzung bereitzustellen. Mit anderen Worten haben wir eine Gruppenkonstellation herzustellen, die für kreative Hirnträger möglichst günstige Bedingungen schafft. In diesem Gruppen-Setting sollen nicht nur neue neuronale Verknüpfungen angeregt werden. Darüber hinaus sind die in diesen neuen neuronalen Systemen steckenden Denkmöglichkeiten und Problemlösungs-Ansätze systematisch herauszuarbeiten, zu bewerten und in kreative Maßnahmen und kreative Produkte umzuwandeln.
Gruppen unterbinden regelmäßig Kreativität.
Diese beiden Herausforderungen nehmen wir nun in Angriff.
Zum weiteren Vorgehen: In diesem Blog-Post wenden wir uns vor allem der zweiten Herausforderung zu.
Starten wir mit der Herstellung einer plastischen sozialen Matrix:
Ungünstige Gruppenkonstellationen sind das Haupthindernis für kreative Anstrengungen. Das gilt insbesondere für Aufgabenstellungen im Feld der Kommunikation. Ob im Journalismus, der Werbung, der Public Relations oder des Content-Marketings – die Arbeit an Problemlösungen geschieht stets in Teams.
In der Regel sind sogar mehrere Gruppen und Untergruppen beteiligt, die nicht selten statt zusammen gegeneinander arbeiten. An einer Kommunikations-Aufgabenstellung können beispielsweise parallel Teams in einer PR-Agentur arbeiten – eine Beratungsgruppe, eine Content Marketing-Redaktion usw. -; ein von der Agentur beauftragtes Team von Grafikern und Web-Designern ist in der Regel genauso beteiligt wie ein Team in der Marketing-Abteilung auf Seiten des beauftragenden Klienten. Es erscheint bereits als Herausforderung, angesichts solcher Settings, die gekennzeichnet sind durch das „Aufeinanderprallen“ unterschiedlichster Gruppen und Personen mit heterogenen Berufserfahrungen und Qualifikationen, Routineaufgaben termingerecht zu organisieren. Ausgesprochen schwierig ist es, die beteiligten Personen erfolgreich in einen kreativen Prozess einzubinden.
Psychologische Erklärungen des Uniformitäts-Zwangs
Gehen wir diese Herausforderung der sozialen Matrix an und stellen uns die Frage, warum Gruppen und Teams kreative Leistungen regelmäßig „inhibieren“, also unterbinden.
Sozialpsychologische Untersuchungen bestätigen, dass Gruppen, die vor die Aufgabe gestellt werden, Probleme zu lösen, häufig ein zwanghaftes Klammern an etablierte Lösungsmuster ausprägen. Forscher haben verschiedene Anläufe genommen, die sich dabei ausbildende Dominanz konservativer Ideen zu erklären.(1)
Ein Ansatz zur Deutung dieses Uniformitäts-Zwangs besteht im Hinweis auf die Angst der beteiligten Individuen davor, sich mit einer neuen Idee zu sehr „aus dem Fenster zu hängen“ und dadurch Kritik der Gruppe Angriffsfläche zu bieten. Sie fürchten sich davor, schlecht bewertet zu werden und dadurch Status zu verlieren. Kurz gesagt: Sie empfinden Bewertungsangst („evaluation apprehension“).
Eine zweite Erklärung bringt den Gruppen-Konservatismus mit der Tatsache in Verbindung, dass Individuen sich in Gruppen weniger als bei Einzelarbeiten engagieren und deshalb in Gruppen-Settings zu wenig Energie aufbringen, um zu einer gemeinsamen neuen Lösung beizutragen.
Anhänger dieser Erklärung sehen hinter dieser „Kreativitäts- und Produktivitäts-Inhibition“ vor allem das Phänomen des „sozialen Faulenzens“ („social loafing“). Sie schreiben Individuen das Bedürfnis zu, für ihre in der Gruppe präsentierte Leistung möglichst sicher angemessene Anerkennung zu finden. Deshalb gehen Anhänger dieser Hypothese davon aus, dass ein Individuum grundsätzlich davor zurückschreckt, sich für neue Ideen zu engagieren, weil es dabei riskiert, für seine individuellen Anstrengungen keine Wertschätzung durch andere Gruppenmitglieder zu erreichen. Denn bis eine „zündende“ und tatsächlich tragfähige neue Idee gefunden wird, muss Energie für viele Fehlversuche und „Schüsse ins Blaue“ investiert werden. Also halten sich Individuen in der Gruppe mit kreativen Vorschlägen meist zurück.
Individuen vergleichen ihre Anstrengungen.
Sozialpsychologen gehen davon aus, dass dieses Phänomen des „sozialen Faulenzens“ beständig auftritt und dabei mit weiteren dysfunktionalen, leistungshemmenden Gruppeneffekten verknüpft ist. Sie nehmen beispielsweise an, dass Individuen dazu neigen, ihre eigene Initiative in der Gruppe mit der Performance der übrigen Gruppenmitglieder zu vergleichen. Dieser individuelle „Anstrengungsabgleich“ („matching of effort“) führt ebenfalls dazu, dass die Beteiligten sich wenig für neue Lösungen engagieren. Denn beim Arbeiten an Innovationen pflegen schnell Situationen aufzutreten, in denen Einzelne das Gefühl haben, dass jemand in der Gruppe in seiner Initiative und seinem Engagement nachlässt und nicht mehr angemessen mittut. Als Rückkopplungs-Effekt lässt daraufhin schnell die Leistung der gesamten Gruppe nach.
Forscher begründen das damit, dass die einzelnen Mitglieder vermeiden wollen, von den anderen ausgenutzt zu werden. Sie wollen nicht als die „Blöden“ („sucker“) dastehen, die „treu und brav“ weiterarbeiten, während andere sich als „Trittbrettfahrer“ („free riders“) betätigen, die Arbeit der Gruppe überlassen und insgeheim darauf spekulieren, ohne eigene Mühen vom Gruppenerfolg zu profitieren.(2)
Solche und ähnliche Phänomene, die kreativer Gruppenarbeit entgegenstehen, sind bekannt, dokumentiert und vielfältig analysiert worden. Betrachter könnten nun vermuten, dass dies alles Effekte sind, die zwar unfallartig auf ein Team hereinbrechen können. Dass im Normalfall, wenn alle Beteiligten guten Willens sind und über die möglichen Gefahren individueller Fehlorientierungen aufgeklärt sind, kreative Arbeit trotz aller Schwierigkeiten sicher zu „managen“ ist.
Das ist eine Fehleinschätzung. Denn die Problematik der „Kreativitäts-Inhibition“ wird durch Mechanismen der Gruppenarbeit verursacht, die beständig wirken und nicht, ohne gezielte und überlegte Vorkehrungen zu treffen, auszuschalten sind.
Polarität von Korrektheit und Kreativität
Die betreffenden Mechanismen können wir uns vergegenwärtigen, indem wir an die Ergebnisse einer modernen Interaktionstheorie anknüpfen, die systematisch das Problemlösungsverhalten in Gruppen erfasst. Wir greifen zur SYMLOG-Theorie, die an der Harvard University federführend durch den Psychologen Robert F. Bales entwickelt wurde.(3)
Die SYMLOG-Theorie besitzt den Vorzug, empirisch-wissenschaftliche Analysen sowohl von Gruppenstrukturen als auch zu individuellen Interaktionen zu einer integrierten Feld- und Systemtheorie menschlicher Kommunikation zu verbinden. SYMLOG steht für „A SYstem for the Multiple Level Observation of Groups“ – „System für die Mehr-Ebenen-Beobachtung von Gruppen“. Die Theorie ist international anerkannt und gehört mit ihrer Forschungs-Methode zu den Standard-Erhebungs- und Auswertungs-Instrumenten psychologischer Institute etwa an deutschen Universitäten.
Für unser Kreativitäts-Projekt ist diese Interaktionstheorie ein wichtiger Baustein, weil sie den von uns beobachtbaren Antagonismus zwischen Gruppen-Konservatismus und Kreativität als wesentliche Dimension menschlicher Kommunikation erfasst und analysiert hat. Aufgrund von Bales’ empirischer und theoretischer Arbeit können wir sagen, dass es in Gruppen und zwischen den darin interagierenden Individuen eine grundlegende Gegensätzlichkeit von Werten der Korrektheit auf der einen und der Bewertung von Kreativität auf der anderen Seite gibt.
Schauen wir uns das im Detail an:
Zur Betrachtung, Aufzeichnung und Analyse des Problemlösungsverhaltens in Gruppen hat Robert F. Bales das so genannte Feld-Diagramm entwickelt. Im Mittelpunkt dieses Diagramms steht eine quadratische Grafik, welche die Beziehungskonstellation einer Gruppe sowie die Positionen der beteiligten Mitglieder dokumentiert und damit auswertbar macht. Wie das folgende Beispiel-Felddiagramm (4) zeigt, visualisiert Bales’ Grafik Kommunikations-Konstellationen in Form eines Interaktions-Mappings oder anders gesagt als „Interaktions-Landkarte“.
Die Positionierung jedes Gruppen-Mitglieds ist als Kreis auf dem Diagramm dargestellt, welcher mit dem Code-Namen des betreffenden Teilnehmers betitelt wird. Der Kreis mit seiner konkreten Lokalisierung im Diagramm wird als „Bild“ („image“) des Gruppenmitglieds bezeichnet. Die Details zur Größe des jeweiligen Bildes und zu dessen Lokalisierung in der Grafik basiert auf Bewertungen aller beteiligten Gruppenmitglieder.
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Bales entwickelte verschiedene, gestufte Fragebögen, mit denen die erforderlichen Bewertungsdaten erhoben werden. Wie diese Fragebögen im Einzelnen aussehen und eingesetzt werden, erörtern wir an dieser Stelle nicht, weil dies zu weit von unserer Fragestellung ablenken würde.(5) Was hierfür ausgesprochen relevant ist und uns stattdessen interessiert, sind die Einzelheiten der Dimensionierungen, die in den Felddiagrammen zum Tragen kommen
Drei Dimensionen menschlichen Interaktionsverhaltens
Schauen wir auf das Beispiel-Felddiagramm: Die Grafik enthält zwei sich in der Mitte des Feldes überkreuzende Skalen, die in unserer Darstellung als jeweils senkrechte und horizontale gestrichelte Linie erkennbar sind. Jeweils am Ende der Linien – also oben, unten, rechts und links – befinden sich die Dimensions-Kennzeichnungen F (oben), B (unten), N (links) und P (rechts). In langjährigen Untersuchungen von Problemlösungsverhalten hatte Bales systematisch Daten gesammelt und diese mithilfe statistischer Berechnungen ausgewertet. Aufgrund einer Faktorenanalyse ergaben sich drei Grunddimensionen menschlichen Interaktionsverhaltens:
Engagements-Dimension:
Dominanz versus Unterwürfigkeit – U (upward) und D (downward)
Emotions-Dimension:
Freundlichkeit versus Unfreundlichkeit – P (positive) und N (negative)
Arbeitsorientierungs-Dimension:
Normorientierung versus Nonkonformismus – F (forward) und B (backward)
Vereinfacht gesagt zeigte sich, dass sich Personen in einer Gruppensituation auf drei Ebenen individuell verhalten. Zum einen zeigen sie bestimmte Ausprägungen von Engagement. Sie treten mehr oder weniger dominant (U – „upward“) auf oder sie sind mehr oder weniger zurückhaltend bzw. unterwürfig (D – „downward“).
Im Weiteren zeigen sie ihre Emotionalität entweder in mehr oder weniger freundlichem Sozial-Verhalten (P – „positive“) oder sie zeigen mehr oder weniger unfreundliche Formen von abgrenzendem Individualismus (N – „Negative“).
In der dritten Dimension können wir die Arbeitsorientierung von Individuen beobachten – sie offenbaren entweder mehr oder weniger starke Akzeptanz konservativer Werte und etablierter Autorität (F – „Forward“) oder sie zeigen mehr oder weniger starke Orientierungen an alternativen Wertvorstellungen und an Kreativität (B – „Backward“).
Obwohl das Felddiagramm als grafisches Artefakt auf eine zweidimensionale Illustrierung des Interaktionsraums eingeschränkt ist, gelang Bales für die Darstellung der drei Verhaltens-Dimensionen eine anschauliche Visualisierung:
In der Grafik werden zwei Dimensionen direkt dargestellt. Bales nutzte die horizontale Ebene für die Wiedergabe der Dimension „Freundlichkeit versus Unfreundlichkeit“ – P versus N. Die senkrechte Blickrichtung nutzte er für die Darstellung der Dimension „Akzeptanz versus Nichtakzeptanz von Autorität“ bzw. „Konservatismus versus Kreativität“ – F versus B.
Für die ausstehende Dimension „Dominanz versus Unterwürfigkeit“ – U versus D -, ließ sich Bales eine Illustrierung einfallen, die für den Betrachter intuitiv nachvollziehbar ist: Dominantes Verhalten wird durch einen großen Kreis dargestellt, weniger dominantes und unterwürfiges Verhalten wird durch kleinere Kreisdurchmesser kenntlich gemacht.
Anhand dieser kurzen Erläuterungen kann der Leser grundlegend nachvollziehen, wie Bales’ Beispiel-Felddiagramme funktionieren. Insbesondere kann er die gegenläufigen Orientierungs-Möglichkeiten von Individuen identifizieren. Auf dieses Grundverständnis des SYMLOG-Ansatzes bauen wir auf, wenn wir nun auf ein weiteres Felddiagramm blicken. (6)
In diesem Diagramm sind die wichtigsten bipolaren Einstellungen, auf die Bales bei seinen Untersuchungen gestoßen ist, durch gegenläufige Pfeile angedeutet. Wir erkennen unter anderem die Gegenläufigkeit von Orientierungen des Selbstschutzes auf der einen Seite und kollektiven Orientierungen wie der Gleichberechtigung auf der gegenüberliegenden Seite, Orientierungen des Anti-Konformismus laufen in Gegenrichtung zu Orientierungen der Zusammenarbeit. Für unser Kreativitäts-Thema knüpfen wir an die Gegenläufigkeit von Orientierungen der Korrektheit (oben) und der Orientierung an neuen alternativen Wertvorstellungen und der Kreativität (unten) an:
Korrektheits-Orientierung
Bales konnte herausarbeiten, dass Orientierungen am Wert der Korrektheit in Form folgenden individuellen Verhaltens auftreten:
an der Gruppenaufgabe Mitarbeiten
ernsthaftes Bemühen um Problemlösung
Überzeugungen und Vermutungen in einer vernünftigen und beherrschten Weise Vorbringen
Problemstellungen Bewerten oder Diagnostizieren, indem Meinungen und Einstellungen analysiert werden
Als Botschaft formuliert, drückt Bales diese Orientierung aus als:
„Höre auf zu träumen und werde vernünftig!“
Für die Kreativitäts-Orientierung erwiesen sich wesentlich andere Verhaltensweisen als charakteristisch:
Abruptes Ändern der Interaktionsstimmung
Zuerkennengeben, dass der Inhalt oder die Art und Weise dessen, was vor sich geht, als zu kontrolliert oder einengend empfunden wird
Zuerkennengeben, dass der Wunsch aufkommt, von der Arbeitsroutine zum freien Gedankenspiel überzugehen, vom Überlegen zum improvisierenden Agieren, von der Selbstbeherrschung zum Ausdrücken von Gefühlen
Wie weit sind diese antagonistischen Orientierungen in der Gruppen-Praxis und im Arbeitsalltag voneinander entfernt? Mit welchem Aufwand kann ein im Augenblick erfolgreich und korrekt arbeitendes Team dazu gebracht werden, auf das Erfinden von neuen Vorgehensweisen und alternativen, kreativen Wertvorstellungen „umzuschalten“?
Robert F. Bales hat zur Beantwortung dieser Fragestellung Forschungsergebnisse speziell ausgewertet. Das Ergebnis dieser Auswertung erkennen wir in einem weiteren Balesschen Felddiagramm – wir schauen auf die so genannte „Wert-Gebiets-Karte“:(7)
Dazu eine knappe Erläuterung: Nach jahrelangem Einsatz der Felddiagramme und der Analyse von Hunderten Gruppenkonstellationen zeichnete sich ab, dass es in den Interaktions-Feldern typische „Orientierungsregionen“ gibt. Es zeigten sich Diagrammbereiche, in denen sich Daten von Individuen mit ähnlichen Orientierungen häufen, um „Effektive Teams“, „Konservative Teams“ aber auch „Radikale Oppositionen“ usw. zu bilden. Was sich in konkreten Interaktionssituationen dazu abspielte, war Folgendes: In wiederholten Gesprächsrunden glichen sich einzelne Orientierungs-Richtungen von Individuen an. Die betreffenden Personen bildeten Untergruppen, aus denen heraus sie in der Folge gemeinschaftlich gegenüber anderen Untergruppen Konkurrenz-Positionen einnahmen. Die Wert-Gebiets-Karte (oben) stellt die typischen Polarisierungs-Felder dar, die sich dabei ergaben.
Wie werden Gruppen effektiv?
Auf der Basis dieser Wert-Gebiets-/Polarisierungs-Karte wertete Bales die Befragung von 1.000 Probanden seiner Untersuchungen aus. Die Befragungsteilnehmer waren gefragt worden, welche Orientierung sie persönlich zum Erreichen von Arbeitseffektivität für wichtig halten:
„Im Allgemeinen, welche Art von Wertorientierungen sollten idealerweise gezeigt werden, um die höchste Effektivität zu erreichen?“
Anhand der Antworten auf diese Fragestellungen bekommen wir einen Eindruck davon, inwieweit Gruppenmitglieder Effektivität eher mit „konservativen“ Werten rund um Korrektheits-Orientierungen (F) oder eher mit “alternativen“ Werten, neuen Vorgehensweisen und Kreativitäts-Orientierungen (B) in Verbindung bringen.
Zur Auswertung wurden sämtliche Antworten in die Polarisierungs-Karte eingetragen, wobei sich viele Kreise ganz oder teilweise überlagerten. Bales’ Darstellung dieses Überlagerungsbildes ergab das „Feld-Streudiagramm“.(8)
Effektive Gruppen meiden neue Wege.
Schauen wir auf die Details dieses Streudiagramms: Was ist bemerkenswert an dem Muster, das sich hier zeigt? Das Zentrum des sich ergebenden empirischen Clusters ist nah am Zentrum der Orientierungs-Areale „Effektives Team“, „Liberales Team“ und „Konservatives Team“. Im Detail ergab Bales’ Auswertung, dass 90,3 Prozent der Bild-Lokalisierungen mit der Bewertung „am effektivsten“ in diesen Arealen des Felddiagramms positioniert sind.
Offenbar gibt es unter Individuen den Konsens, dass effektives Arbeiten in der Gruppe Orientierungen voraussetzt, die in Richtung „Etablierte Arbeitsweisen“, „Verantwortungsvolle Zusammenarbeit“ und „Gleichberechtigte Zusammenarbeit“ gehen – Grundrichtung ist also die F-Orientierung. Orientierungen in B- Richtung, also in Richtung „neue Vorgehensweisen“ und „Kreativität“ wurden bei Bales’ Untersuchung von 1.000 Fällen komplett ausgeschlossen.
Wie bedeutungsvoll sind Bales’ Ergebnisse? Er selbst schließt aus, dass dieses signifikante Beieinanderliegen der Positionierungen aufgrund Mess- oder Rechenfehlern zustande gekommen sein konnte. Seiner Ansicht nach betrachten wir hier ein empirisches Faktum, das aufgrund eines großen Datenbestands abgesichert ist.
Unsere Schlussfolgerung daraus ist entsprechend:
Individuen, die in der Gruppenarbeit Effektivität anstreben, meiden mit großer Wahrscheinlichkeit alternative Wertorientierungen und neue Vorgehensweisen.
Als nächstes erforderlich: Ein Verfahren zum Ausschalten der zwanghaften Überdiszipliniertheit
In diesem Blog-Post haben wir anhand von Bales’ Visualisierung von Interaktionsprozessen gesehen, dass effektiv arbeitende Teams kreative neue Lösungsansätze systematisch verhindern.
Teams brauchen offenbar mehr als guten Willen, um sich aus ihren Routinen herauszulösen.
Im nächsten Blog-Post schauen wir uns deshalb nach einer Lösung für diese beinahe zwanghafte Überdiszipliniertheit um.
Isaksen, Scott G. ; „A Review of Brainstorming Research: Six Critical Issues for Inquiry“; Creativity Research Unit – Creative Problem Solving Group; University of Buffalo, New York; Monograph #302, 1998
(2) Vergleiche:
Fehr, Ernst; Simon Gächter; „Altruistic Punishment in Humans“; in: Natur, Volume 415, 10. Januar 2002; S. 137-40
Droste, Heinz W.; Kommunikation: Planung und Gestaltung öffentlicher Meinung; Band 2: Mechanismen; Neuss 2011; S. 475-80
(3) Bales wesentliche Veröffentlichungen zu seinem SYMLOG-Instrument sind:
Bales, Robert Freed; Stephen P. Cohen; SYMLOG. Ein System für die mehrstufige Beobachtung von Gruppen; Stuttgart 1982 (Originalausgabe: New York 1979)
Bales, Robert Freed; SYMLOG Case Study Kit – with Instructions for a Group Self Study; New York/London 1980
Bales, Robert Freed; Social Interaction Systems. Theory and Measurement; New Brunswick/London 2001
(4) Die Gestaltung der Grafik orientiert sich an Darstellungen aus Bales’
Veröffentlichungen, wie beispielsweise:
Bales, Robert Freed; Social Interaction Systems. Theory and Measurement; New Brunswick/London 2001; S. 6
(5) Eine detaillierte Darstellung zur „Funktionsweise“ des SYMLOG-Ansatzes findet sich hier:
Droste, Heinz W.; Kommunikation: Planung und Gestaltung öffentlicher Meinung; Band 2: Mechanismen; Neuss 2011; S. 347-93
(6) Die Gestaltung der Grafik orientiert sich an einer Darstellung aus:
Koenigs, Robert J.; Margaret Ann Cowen; „SYMLOG as Action Research“, in: Polley, Richard Brian; A. Paul Hare; Philip J. Stone; The SYMLOG Practitioner. Applications of Small Group Research; New York, Westport/Connecticut, London 1988; S. 61-87
(7) Die Gestaltung der Grafik orientiert sich an einer Darstellung aus:
Bales, Robert Freed; Social Interaction Systems. Theory and Measurement; New Brunswick/London 2001; S. 61
(8) Bales’ Untersuchungsergebnis und Konzept der grafischen Darstellung entnommen aus:
Bales, Robert Freed; Social Interaction Systems. Theory and Measurement; New Brunswick/London 2001; S. 259-86
Kreativität: Teil 2 – bewegliche Gehirne erforderlich!
Im vorhergehenden Beitrag habe ich auf der Basis von Agentur- und Projekterfahrungen sowie aufgrund von Diskussionen mit Kommunikations-Fachleuten ein paar Hintergründe zum Umgang mit kreativen »Kommunikationslösungen« erläutert – vorläufiges Fazit:
Kreativität ist ohne spezielle eingeübte Herangehensweisen und Kompetenzen kaum erreichbar.
Was im Einzelnen dahintersteckt, wird in diesem und weiteren Blog-Posts präsentiert.
Als nächster Schritt dieser »Kreativitäts-Serie« komme ich zunächst zu einer »Theorie« kreativen Denkens.
Aus meiner Sicht ist es so:
Wer nicht weiss, wie unser Denken funktioniert und welche Rolle Interaktions-Prozesse in Teams funktionieren, hat kaum eine Chance in seinem Umfeld tatsächlich kreative Dinge zu entwickeln und umzusetzen.
Mini-Theorie der Kreativität
Klären wir ein paar Begriffe:
Hinter dem Begriff einer »kreativen Lösung« steckt unsere Vorstellung von einer »radikalen Innovation« bzw. das Konzept des »Schaffens von etwas Neuem aus dem Nichts«. Eine Person ist erst dann im wahrsten Sinne ein »Kreativer«, wenn sie tatsächlich »kreiert«, also bisher Ungedachtes, Beispielloses produziert.
Dieses Kreativitäts-Konzept ist historisch betrachtet ein »Produkt« der Moderne.
Religionen und Kosmologien kennen diesen modernen Schaffens-Begriff nicht. So schafften beispielsweise die antiken Götter der Griechen keine Welten, sondern organisierten bisheriges Chaos und formlose Materie oder zerstörten organisierte Strukturen, lösten Ordnungen auf – je nach besonderem Charakterzug der gerade aktiven Gottheit.
Auch in der Genesis der Heiligen Schrift ist Gott Jahwe in seiner Schöpfungswoche vor allem mit dem Ordnen, Strukturieren und Fortentwickeln einer Substanz beschäftigt, die bereits zum Beginn des Schöpfungsakts zur göttlichen Überarbeitung vorliegt. Jahwe kam ohne »Big Bang« nicht zu Potte – trotz aller Allmacht …
Die Interpretation von Kreativität als radikale Innovation, als Schaffen von wirklich Neuem war dem menschlichen Denken historisch betrachtet also nicht von Anbeginn präsent. Das könnte uns daran zweifeln lassen, dass der Begriff tatsächlich sinnvoll ist.
Schließlich sind auch erfolgreiche kreative Menschen der Vorstellung des radikal Neuen gegenüber skeptisch. Sie sprechen in der Regel nicht davon, sie hätten Ideen erfunden. Wissenschaftler meinen stattdessen oft bescheiden, sie hätten ihre Theorien lediglich »entdeckt« oder hätten lediglich Gedanken von anderen aufgegriffen und in eine neue Perspektive gebracht. So schrieb beispielsweise Sir Isaac Newton (*25.12.1642 – +20.03.1726), der Schöpfer der klassischen Physik, in einem Brief »If I have seen further it is by standing on ye sholders of Giants.« (»Wenn ich weiter geblickt habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe.«)
Nicht voraussetzungslos und dennoch originell
Sicherlich gibt es um uns herum einen kontinuierlichen Fluss von durch Menschen erdachter Neuheiten beispielsweise in Wissenschaft und Technologie. Dabei gehen diesen Neuheiten stets andere Dinge und Prozesse voraus – sie sind nicht voraussetzungslos. Neuheiten greifen so gesehen auf eine Geschichte älterer Errungenschaften zurück. Dennoch lässt sich der Kern einer Innovation nicht vollständig aus dem Vorhergegangenen erklären. Es ist stets etwas Noch-nie-Dagewesenes, Originelles daran, das aus dem Nichts gekommen zu sein scheint.
Beispiele für Kreativität
Viele dieser Innovationen und Neuheiten betreffen Details, die keine größere Beachtung erlangen; viele treten plötzlich auf, manche sind kurzlebig und geraten schnell in Vergessenheit.
Ein paar Beispiele für Kreativität sind:
der Poet, der eine menschliche Erfahrung auf eine neue Art beschreibt
der Romanschreiber, der eine neue Romanfigur entwirft
der Mathematiker, der eine neue mathematische Struktur entwirft oder aus bereits bekannten Prämissen neue Konsequenzen ableitet
Politiker oder Verwaltungsexperten, die neue Gesetze und Verordnungen entwerfen, die bestehende soziale Probleme lösen und/oder häufig neue soziale Problem entstehen lassen
Kommunikations-Experten, die neue Kommunikations-Prozesse und -Mechanismen entwerfen, die Meinungsbildungen bewirken und neue Interaktions-Systeme entstehen lassen
Diese Beispiele haben gemeinsam, dass es um von Menschen gemachte Dinge geht, die in der »Natur« nicht vorkommen. Sie sind Ergebnis absichtsvoller Handlungen, auch wenn ihnen nicht immer sorgfältige Planungen zugrunde liegen. Sie kommen nicht »rein zufällig« zustande, obwohl Zufälle bei ihrem Auftreten eine gewisse Rolle spielen können. Sie sind stets in der einen oder anderen Beziehung als einzigartig zu beurteilen. Sie »bereichern« die Welt mit etwas Neuem, das vor dem kreativen Akt nicht existierte.
Bei genauer Betrachtung können kreative Produkte unterschiedliche Qualität haben. Vor allem erreichen sie unterschiedliche Grade der Originalität.
Manche kreativen Leistungen mit besonders hoher Originalität werden Ausgangspunkt einer neuen Produkt-Art oder -Kategorie. Der erfolgreiche Torschuss eines bekannten Stürmers mag ein neues, kreatives Faktum sein. Er stellt aber keine neue Klasse von Tatbeständen dar. Anders ist der Fall bei einer neuen wissenschaftlichen Theorie, dem Design eines neuen wissenschaftlichen Experiments, der Erfindung einer neuen Art von Sozial-Verhalten oder einer neuen Art, Beziehungs-Netzwerke zu knüpfen und darin zu kommunizieren. Dies sind Beispiele für die kreative Erfindung neuer »Produkt-Spezies« also für »absolute Kreationen«.
Wie kommen solche absoluten Kreationen zustande? Welcher Mechanismus ist für den dahinter liegenden kreativen Prozess verantwortlich?
Die Antwort auf diese Fragen finden wir nicht in psychologischen Theorieansätzen wie beispielsweise dem Behaviorismus, der Denkprozesse als Faktoren unseres Verhaltens vollständig ignoriert.
Auch die im Zusammenhang mit Kreativität von manchen Autoren bemühte, ansonsten aus der Mode gekommene Gestaltpsychologie hat keine empirisch-wissenschaftlich gültigen Erklärungen kreativer Prozesse geschaffen. Die von ihr zur Sprache gebrachten kreativen Assoziations- und Wahrnehmungsgesetze sind nicht nur zu unpräzise, sondern inzwischen durch neurophysiologische Forschung detailreich widerlegt. (1)
Apropos Neurophysiologie: Können uns Ergebnisse einer neurophysiologischen Psychologie bei der Klärung der Kreativität weiterhelfen? Tatsächlich – hier gibt es ein Forschungsprojekt, an das wir anknüpfen können:
Aus der Perspektive dieser Psychologie ist der kreative mentale Akt nichts anderes als ein Denkprozess, denn jedem mentalen Prozess liegt ein Hirnprozess zugrunde.
Kreativität basiert auf neuronalen Netzwerken.
Der kreative mentale Prozess hat aus dieser Perspektive allerdings eine entscheidende Besonderheit – er stellt sich als neuronaler Selbstorganisationsprozess dar, durch den ein neues plastisches System von Neuronen entsteht.
Ohne ins Detail zu gehen, vergegenwärtigen wir uns für die folgenden Überlegungen ein paar Stichworte zum Themenkomplex »plastische neuronale Systeme«:
Eine Verbindung zwischen zwei Nervenzellen – Neuronen – wird als plastisch bezeichnet, wenn sich diese Bindung dauerhaft verändern kann, insbesondere wenn sie eine neue stabile Verbundenheit entwickeln kann. Unter neuronaler Plastizität wird die Eigenschaft von Kontaktstellen zwischen Nervenzellen – den Synapsen -, Neuronen oder auch ganzen Hirnarealen verstanden, sich in Abhängigkeit von Hirnprozessen in ihren Eigenschaften zu verändern. In diesem Zusammenhang wird auch von synaptischer Plastizität bzw. kortikaler Plastizität gesprochen.
Aus der Perspektive der neurophysiologischen Psychologie liegt einer absoluten Kreation die Bildung eines neuen plastischen neuronalen Systems zugrunde. Neue Gedanken, Ideen und darauf aufbauende neue Problemlösungen erfordern die Ausprägung komplexer neuer Nervenverknüpfungen eines plastischen Gehirns.
Aus dieser Einsicht können wir nun bereits einige Annahmen ableiten:
Wir nehmen an, dass eine Kreation absolut oder radikal ist, dann und nur dann, wenn das korrespondierende plastische neuronale System in der Geschichte des Universums zum ersten Mal auftritt – also ohne entsprechende Vorläufer ist.
Kreativität braucht plastische Nervensysteme.
Daraus können wir schlussfolgern:
Ohne plastische Nervensysteme gibt es keine Kreativität – Menschen sind kreativ. Wesen mit fest »verdrahteten« Nervenverbindungen sind nicht kreativ. Maschinen, die über entsprechend fest verdrahtete Informations-Kanäle verfügen, sind ebenfalls nicht kreativ.
Da wir weder einen Zugang zum ganzen Universum noch einen lückenlosen Überblick über die gesamte menschliche Geschichte haben, können wir niemals sicher sein, dass eine vorliegende Kreation tatsächlich absolut oder radikal ist.
Bereiten wir ein wenig auf, was wir mit dieser Minitheorie absoluter Kreation ermittelt haben:
Wenn ein Wesen, wie etwa ein Mensch, etwas Neues erdenkt, dann liegt das daran, dass in seinem Hirn ein neues System von Neuronen entweder spontan oder durch eine externe Stimulation emergierte.
Wenn zwei Personen unabhängig voneinander dieselbe Idee bilden, dann liegt das daran, dass sie auf der Basis ähnlicher Erfahrungen am selben Problem gearbeitet haben. Hierdurch erklären sich simultane Entdeckungen und Erfindungen sowie das parallele Auftreten von einzigartigen Innovationen bei verschiedenen Personen an unterschiedlichen Orten.
Diese Erklärung von Kreativität als selbstorganisierender Prozess neuronaler Systeme ist zugegebenermaßen nur skizzenhaft. Es fehlt noch die detaillierte und präzise experimentelle Bestätigung.
Wir benötigen irgendwann eine detaillierte Theorie neuronaler Plastizität und insbesondere derjenigen Art von Plastizität, die Kreativität ermöglicht.
Wie sich gleich zeigen wird, reicht für unsere Zwecke die vorliegende Theorie aus, wenn wir diese mit weiteren Theorien und Technologien verknüpfen.
Kreativität braucht plastische Sozialsysteme.
Einen wichtigen Punkt müssen wir direkt an dieser Stelle ergänzen. Denn die Erklärung mentaler Kreation als Emergenz neuer Neuronen-Vernetzungen ist nicht hinreichend. Diese Vernetzungen finden in Hirnen von Einzelpersonen statt, die sich im Einflussbereich anderer Individuen und Gruppen aufhalten. Es ist offenbar entscheidend, dass in einer vollständigen »neuronalen« Theorie der Kreativität die Beziehungen zwischen dieser »sozialen Matrix« und der Persönlichkeitsebene berücksichtigt werden. Der Grund dafür liegt in Beobachtungen, die belegen, dass diese soziale Matrix einen entscheidenden Einfluss auf das Auftreten und den Erfolg von absoluten Kreationen hat.
Konservative Gruppen, die mit Neuheiten konfrontiert werden, reagieren mit Misstrauen und behindern deren Ausbreiten durch vielerlei Repressionen.
Anpassungsbereite, »plastische« Gruppenkonstellationen haben eine entgegengesetzte Wirkung, indem Gruppenmitglieder Neuheiten und persönliche Initiative positiv sanktionieren, um die Entwicklung von Innovationen zu begünstigen.
Erfolgreiche Kreativität setzt also neben plastischen Gehirnen eine plastische Gruppenstruktur voraus.
Vertiefen wir an dieser Stelle, was wir bereits über die Hintergründe des Entstehens kreativer Problemlösungen wissen:
Wir haben gelernt, dass das Auftreten von Kreativität auf gut ausgestattete Hirne beschränkt ist und dass die Gesellschaften und Gruppen, in denen die betreffenden »Hirnträger« wirken, das Auftreten von Innovationen verhindern, behindern, tolerieren und bestenfalls unterstützen können.
Im Zusammenhang mit kreativen Kommunikations-Konzeptionen wird häufig von »kreativem Computereinsatz« und von »kreativer Software« gesprochen. Um unser neues Wissen zu testen, beschäftigen wir uns einmal kurz mit dieser Vorstellung von »digitaler Kreativität«.
Erfindungen sind eine Domäne des menschlichen Geistes.
Computer können gut den »mechanischen« Teil des menschlichen Denkens übernehmen, insbesondere den »kopfrechnerischen« Teil des mathematischen Denkens.
Aber beim Identifizieren von neuen Problemen, dem Wagen von neuen Verallgemeinerungen, dem Erdenken von neuen Theorien und Konzepten, dem Herausfinden von neuen Prämissen, auf deren Basis neue Schlussfolgerungen gezogen werden, können Computer keinen selbst gesteuerten Beitrag leisten. Das Erfinden von neuen Methoden und Denkweisen bleibt die Domäne des menschlichen Gehirns und seiner Träger.
Computer können unsere Gehirne bei ihrer Arbeit unterstützen, aber sie können diese nicht ersetzen. Die Behauptung, es wäre möglich, kreative Computer zu designen, setzt voraus, dass wir über präzise Regeln für das Erfinden von Ideen verfügten. Aber die Idee einer »Kunst des Erfindens« – einer »ars inveniendi« – ist schon aufgrund der Definition falsch, die besagt, dass eine Erfindung etwas ist, das nicht dadurch entsteht, dass bereits bekannte Regeln angewendet werden.
Wenn wir eine Erfindung gemacht haben, können wir Regeln dafür erfinden, wie wir die dahintersteckende Problemlösung in Zukunft routinemäßig nutzen. Diese Regeln können anschließend dazu dienen, ein Programm zu schreiben, mit dem ein Computer oder ein Roboter »gefüttert« wird.
Zunächst erfolgt die Kreation, erst danach kommt die Routine! Also ist erst der Mensch mit seinem plastischen Hirn gefordert, etwas Neues entstehen zu lassen. Erst danach kann er mittels eines Computers die Neuheit »nachmodellieren« und in eine Routine, in einen Algorithmus verwandeln.
Kreativität ist nicht mysteriös
Ziehen wir ein vorläufiges Fazit:
Kreativität ist faszinierend aber nicht mysteriös. Sie kann mit dem Prinzip der Selbstorganisation von Neuronen erklärt werden, die neue Verbindungen, neue Neuronen-Netze entstehen lassen. Kreativität ist nicht das Ergebnis der Arbeit einer Maschine, da Maschinen dazu konstruiert sind, nach Regeln, gemäß Algorithmen zu arbeiten.
An dieser Stelle wollen wir die ethische Dimension von Kreativität nicht vergessen. Denn Kreationen und neue Problemlösungen sind für Betroffene nicht folgenlos. Bedürfnisse und Interessen von Gruppen sowie Individuen können dadurch tangiert werden.
Wir haben deshalb die Pflicht, beim Umgang mit Kreativität auf dessen Folgen zu achten und verantwortungsvoll vorzugehen. Anstrengungen, kreativ zu sein, sollten ermutigt werden – aber nur so lange sie nicht darauf abzielen, Dinge zu entwickeln, deren wesentliche Funktion darin besteht, die auf der Welt verbreitete menschliche Mühsal weiter zu vergrößern, statt diese zu verringern.(2)
Als nächstes erforderlich: Das kreative Team
Wie geht nun die “Kreativitäts-Serie” hier weiter?
In diesem Blog-Post haben wir uns eine Basis-Theorie der Kreativität angesehen.
Wir haben erkannt, dass kreative Ideen und deren Umsetzungen ein plastisches Gehirn voraussetzen. Plastizität und Operationsweisen sind eng verbunden mit Interaktionen in den Beziehungs-Netzwerken, in denen wir uns aufhalten und in denen wir nach kreativen Lösungen suchen.
Als nächstes schauen wir uns an, unter welchen Voraussetzungen Teams in Plattformen für kreative Lösungen verwandelt werden können. – Hier geht es weiter.
Anmerkungen
(1) Ein typisches akademisches Beispiel für den realitätsfernen Versuch, die überkommene und »tote« Gestaltpsychologie zu »reanimieren« (»Schematheorie«), ist:
Bruhn, Manfred; Integrierte Unternehmens- und Markenkommunikation. Strategische Planung und operative Umsetzung; Stuttgart 2006, S. 36-51
(2) Details zum moralisch-ethischen Aspekt der Entwicklung von Kommunikations-Technologie finden sich hier:
Droste, Heinz W.; Kommunikation: Planung und Gestaltung öffentlicher Meinung; Band 2: Mechanismen; Neuss 2011; S. 395-429
Manch einer liebäugelt mit der Sicherheit von Routinen.
Holzhacken ist deshalb so beliebt, weil man bei dieser Tätigkeit den Erfolg sofort sieht.
Albert Einstein
Der besondere Reiz und die Faszination, den Berufe rund um die Gestaltung der Kommunikation auf viele Zeitgenossen und insbesondere auf junge Menschen ausüben, liegen aus meiner Sicht in einer idealisierten und letztlich unrealistischen Vorstellung von Kreativität.
Außenstehende stellen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Zeitungs– und TV–Redaktionen, in Werbe–Agenturen und PR–Agenturen als hochkreative Menschen vor, die der höchst befriedigenden Aufgabe, die Welt täglich kommunikativ neu zu erfinden, durch besonderes gestalterisches und sprachliches Talent gewachsen sind.
Dem möchte ich insoweit gar nicht widersprechen: Viele der in diesen Feldern arbeitenden Menschen sind erfahrungsgemäß tatsächlich überdurchschnittlich talentiert und leistungsfähig.
Und kreative Leistungsfähigkeit ist wichtig, um Problemlösungen zu entwickeln, die durch den im ständigen Wandel befindlichen gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess notwendig werden.
In Agenturen, die Aufgaben der Unternehmens-Kommunikation übernehmen, sind im Auftrag von Klienten
– Interaktionssysteme und Kommunikations–Beziehungen neu zu gestalten,
– bestehende Netzwerk–Verbindungen sind im Betrieb zu halten,
– bedarfsweise in ihrer Wirksamkeit zu optimieren,
– während nicht mehr reparable Netzwerke abzubauen sind.
Kreativität – Teil 1: Kommunikations-Profis auf neuen Wegen.
Aber viele Vertreterinnen und Vertreter der beschriebenen Berufsgruppen vertrauen bei der Arbeit an diesen Aufgaben gar nicht ihrer eigenen Kreativität. Stattdessen wird in der Regel zu zwei Methoden gegriffen, um kreative Kompetenz zu “simulieren”:
Methode 1: Meine Beobachtung ist, dass sowohl im Journalismus und als auch in Kommunikations-Agenturen bei neuen Aufgabenstellungen mit freiberuflichen Kreativen zusammengearbeitet wird – mit Freelance-Kreativen. Den Verantwortlichen in Agenturen ist klar, dass die eigenen Mitarbeiter angesichts ihrer Tagesroutinen die »Denk-Kapazität« fehlt, innovative und wirkungsvolle Dinge zu entwickeln. Dazu kommt: Viele junge Agenturmitarbeiter verfügen noch gar nicht über die Erfahrung mit kreativen Entwicklungsprozessen und würden entweder das Ziel einer kreativen Aufgabe zu langsam erreichen oder gänzlich verfehlen.
Methode 2: Zu dieser Methode wird meistens gegriffen, wenn der Kunden-Etat so knapp bemessen ist, dass die Beauftragung von kreativen Dritten mit allzu schmerzhaften Profiteinbrüchen verbunden wäre. Deshalb greifen Agenturen zu Routinen, die in der Vergangenheit zu guten – zumindest zu befriedigenden – Lösungen geführt haben. Neuen Aufträgen wird mit in der Vergangenheit bewährten Maßnahmen–Plänen begegnet: Kommunikations–Berater denken dann unabhängig vom konkreten Einzelfall und unabhängig davon, wie ein Klient seine Bedürfnisse artikuliert hat, in standardisierten Maßnahmen–Kategorien wie »Content-Marketing«, »Presse– und Medienarbeit«, »Social Media«, »Produktion und Verteilung von Print– und Digitalmedien« und »Organisation von Events«.
Abhängig von der Höhe des verfügbaren Etats werden aus diesen Kategorienfeldern einzelne Maßnahmen herausgegriffen, zu Maßnahmenpakten gebündelt und schließlich als »Kommunikations–Konzeptionen« beispielsweise »Content-Marketing-Plänen« präsentiert, die den Klienten–Möglichkeiten am besten entsprechen sollen.
Tatsache ist, dass Meinungsbildungsprozesse dynamisch und wandelbar sind. Jeder Klient ist darin auf unterschiedlichste Weise positioniert und betroffen. Wenn Kommunikations–Berater den sich dabei auftretenden unbeständigen Konstellationen mit starren Maßnahmen–Standards – etwa »Content-Strategie-Konzepten« – begegnen, riskieren sie, an ihren Aufgabenstellungen zu scheitern.
Damit stellt sich die Frage: Wie kann Kreativität angesichts von Kommunikations–Herausforderungen ihr Problemlösungs–Potenzial entfalten und die Gefahren starrer Vorgehensweisen umgehen?
Die Antwort dazu liegt nicht auf der Hand. Denn auf der einen Seite ist der Begriff der »Kreativität« zwar positiv besetzt, doch in der Kommunikations–Praxis ist er auf der anderen Seite Auslöser für eine ganze Reihe von »Störgefühlen«.
Flow-Erlebnisse erklären Kreativität nicht.
Zum einen gibt es wenig Wissen darüber, wie Kreativität zu erklären und im Kommunikations–Alltag handhabbar zu machen ist. Es gibt zwar vielbeachtete Kreativitäts–Literatur, die sich vorzugsweise mit außeralltäglichen kreativen Leistungen von Genies beschäftigt. Wir wissen, dass diese Menschen nach Arbeitsphasen des Fragens, Suchens und Sammelns zu einer Lösung gelangen, die bei ihnen starke Glücksgefühle – so genannte Flow–Erlebnisse – hervorrufen.(1)
Doch diese Einsicht in das »Phänomen« Kreativität hilft uns nicht, ein Verfahren für die Praxis von Journalisten, Werbern und PR–Beratern zu entwickeln. Das Flow–Erlebnis ist lediglich eine Begleiterscheinung, kein kausaler Faktor von kreativen Prozessen. Ansonsten müsste es möglich sein, durch das Erzeugen von »Flow-Gefühlen« – beispielsweise durch die Verabreichung künstlicher Stimulanzien – kreative Resultate zu erzeugen.
Ein Kreativer bemüht sich nicht deshalb um eine innovative Lösung, weil er den glücklich machenden Flow sucht, sondern ihn trägt sein Interesse am Thema und seine Motivation, einen wichtigen Beitrag dazu zu leisten. Der Kern der kreativen Leistung ist eine bisher nicht dagewesene Lösung und nicht das Glücksgefühl, das der Erfinder bei seiner Hervorbringung genossen haben mag. – Das Flow-Glücksgefühl ist lediglich eine angenehme Begleiterscheinung des kreativen Arbeitens und nicht dessen Ursache.
Mit Blick auf Kreativitäts-Literatur scheint es so zu sein, dass befriedigende Erklärungen von Kreativität so spärlich gesät sind, dass häufig Mysteriösität als ihr wesentlicher Wesenszug dargestellt wird. Kreativität ist anscheinend nicht sicher beherrschbar und muss auf geheimnisvolle Weise »heraufbeschworen« werden.
Tatsache ist allerdings: Kreativität funktioniert weit weniger geheimnisvoll als vielfach angenommen. Es ist möglich, sie stabil in den Problemlösungsprozess rund um Kommunikationsaufgaben einzubinden. Das ist mit einem gewissen Aufwand und mit dem Entwickeln von kreativer Kompetenz verbunden. Wer Kreativität wünscht, kommt ohne eine Investition nicht aus. Worin besteht diese Investition? Diese Frage soll in diesem Beitrag und einigen weiteren hieran anknüpfenden Posts beantwortet werden.
Kreativität verschafft »Störgefühle«.
Doch zuvor müssen wir auf ein weiteres Störgefühl rund um den Kreativitäts–Begriff zu sprechen kommen. Denn erfahrungsgemäß steht Kreativität mit der Erwartung in Verbindung, Vorgehensweisen grundlegend zu verändern, um neuen Herausforderungen zu begegnen. Solche Veränderungen werden in der Kommunikations–Branche weit weniger geschätzt, als es sich die Beteiligten bewusst machen. Stattdessen ist zu beobachten, dass Kreativität im Berufsleben von Kommunikations–Profis geradezu gefürchtet und mit Misstrauen von Personen auf höheren Hierarchiestufen verfolgt und häufig unterbunden wird. Zwar werden Kreative – Entdecker, Innovatoren usw. – hochgelobt und beklatscht. Im direkten Umgang am Arbeitsplatz und im Organisations–Gefüge werden sie dagegen als unbequem und irritierend erlebt.
Kreativität – so geht es weiter!
Dieser Störgefühle zum Trotz gibt es ein Verfahren, das praktiziert werden kann, um gleichermaßen kreative und wirkungsvolle Lösungen zu finden. Wie dieses Verfahren für kreative Problemlösungen im Bereich Kommunikation aussieht, gehe ich in hier anschließenden Posts Schritt für Schritt an. Basis dieser »Kreativitäts-Formel« ist eine plausible, kompakte Mini–Theorie der Kreativität. Formuliert wurde diese Theorie vom Wissenschaftler und Wissenschafts–Philosophen Mario Bunge.(2) Ich werde diese Theorie um den einen oder anderen Baustein ergänzen, um den Lesern ein kreatives Kommunikations–Verfahren an die Hand zu geben. Hier geht es weiter.
Anmerkungen
Vergleiche:
Mihaly Csikszentmihalyi; Das flow–Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen; Stuttgart 1993
Kreativität. Wie Sie das Unmögliche schaffen und Ihre Grenzen überwinden; Stuttgart 1997
Wir folgen an dieser Stelle Mario Bunges Aufsatz »Explaining Creativity (1993)« und seinen Ausführungen über die Grundlagen einer modernen neurophysiologischen Psychologie:
Bunge, Mario; Scientific Realism; Amherst, New York 2001; S. 281–7
Bunge, Mario; Rubén Ardila; Philosophie der Psychologie; Tübingen 1990
Bunge, Mario; Martin Mahner; Philosophische Grundlagen der Biologie; Berlin, Heidelberg, New York 2000 Bunges Psychologie–Konzept wurde bereits hier im Detail erläutert:
Droste, Heinz W.; Kommunikation – Planung und Gestaltung öffentlicher Meinung. Band 2: Mechanismen; Neuss 2011; S. 314–41
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